Nur weg

Ronny und Monique wollten ihre Heimatstadt Hoyerswerda nicht den Nazis überlassen - und wurden deshalb selbst Ziel von Bedrohung und Hetze. Die Polizei wusste sich nicht anders zu helfen, als die Opfer aus der Stadt zu bringen, damit endlich wieder Ruhe einkehrt. Die Geschichte einer Kapitulation.

 

Wann genau Monique und ihr Freund Ronny für ihre Heimatstadt Hoyerswerda zum Problem wurden, ist schwer zu sagen. Wann man in Hoyerswerda entschieden hat, das Problem Ronny und Monique ein für allemal zu beseitigen, das lässt sich genau datieren. Es ist der 17. Oktober 2012, als Ronny und Monique von Neonazis überfallen und bedroht werden. Nur einen Tag später bringt die Polizei sie aus der Stadt, eine Stunde Autofahrt entfernt, in ein altes Bauernhaus. Sie sollen sich verstecken. Denn in Hoyerswerda kann die Polizei sie nicht vor den Neonazis beschützen. Ein Jahr ist das her, seitdem versuchen sich Ronny und Monique an einem fremden Leben. In ihre Heimat können sie nicht mehr zurück.


Es ist 15 Minuten nach neun, am Abend des Überfalls, als Monique das erste Mal den Notruf wählt. 15 Neonazis haben sich Zugang zu ihrem Haus verschafft, stehen vor der Wohnungstür, treten und schlagen dagegen. Sie und ihr Freund hatten auf dem Sofa gelegen und ferngesehen, als es klingelte. Schon durchs Küchenfenster hatte Monique gesehen, wer da zu ihnen wollte: 14 Männer und eine Frau, in dunkler Kleidung, die Kapuzen der Sweatshirts in die Stirn gezogen, Sonnenbrillen vor den Augen, um die Hüfte tragen die meisten eine Gürteltasche, der Aufdruck: NS Hoyerswerda. Neonazis. Irgendjemand im Haus hat ihnen die Tür aufgedrückt, wenige Sekunden später sind ein paar von ihnen oben vor der Wohnung von Ronny und Monique. Trommeln, treten, schlagen gegen die Tür. »Komm raus, du Ratte, du Antifa-Sau, wir zerstören dich!«, ruft einer. »Wir machen dich tot!«, ein anderer. Ronny geht zur Tür, will durch den Spion schauen, aber der ist zugeklebt. Dann geht in der Wohnung das Deckenlicht aus und der Fernseher, auch die kleine grüne Anzeige am Radiowecker, am Herd, am Router: kein Telefon, kein Internet. Ihre Hunde fangen an zu winseln. Ronny ist sofort klar, was passiert ist.


Die Angreifer haben den Sicherungskasten im Treppenhaus entdeckt, und ihnen den Strom abgestellt. Die beiden hören, wie jemand mit einem Dietrich an ihrem Türschloss herummacht. Unten auf der Straße skandieren die übrigen Maskierten immer wieder »ANH«, »Autonome Nationalisten Hoyerswerda«. Oben, vor der Wohnungstür, brüllen die anderen: »Diesmal bringen wir dich um, du hast uns lange genug provoziert.«


Wann genau Monique und ihr Freund Ronny für ihre Heimatstadt Hoyerswerda zum Problem wurden, ist schwer zu sagen. Angefangen hat alles im Grunde schon Anfang der Neunziger, gleich nach der Wende. Die beiden waren elf. Moniques Lieblingsbuch zu dieser Zeit hieß Fünkchen lebt und handelt von der Freundschaft zweier Mädchen im Dritten Reich. Monique musste immer weinen, wenn sie an die Stelle im Buch gelangte, als die eine sich von der anderen abwendet, nur weil man ihr gesagt hat, dass jüdische Mädchen schmutzig sind. Später lernte Monique Hip-Hop-Musik kennen: Tanzte in ihrem Kinderzimmer zu Grandmaster Flash. Um diese Zeit brachte ihre große Schwester zum ersten Mal einen Jungen mit nach Hause. Einen, der speckige Schnürstiefel trug und schlecht über Menschen sprach, die er gar nicht kannte, nur weil sie anders aussahen als er. Monique fand das unfair und es erinnerte sie an das Gerede der Idioten in ihrem Lieblingsbuch. Rechte Parolen fand sie ätzend, ebenso wie die Lieder der Böhsen Onkelz, die fortan im Zimmer ihrer Schwester auf Endlosschleife liefen.


Bei Ronny war es noch einfacher. Sein bester Freund in der Schulzeit: Ahmed. Zu dem ging er nach der Schule zum Spielen, dessen Familie lernte er kennen und deren Abendessen schmeckte auch besser als die langweilige Brotzeit zu Hause. Wieso sollte er Ahmed hassen, nur weil seine Eltern vor Jahrzehnten aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren? Das war ihm schleierhaft. Ronny und Monique, die sich damals noch gar nicht kannten, hatten noch nicht das, was man eine differenzierte politische Meinung nennt, doch sie wussten, was richtig und was falsch ist. Eins jedenfalls war klar: Stramme Neonazis würden aus ihnen nicht mehr werden. Eine gute Nachricht, eigentlich. Nur eben in Hoyerswerda nicht, dort ist das ein Problem.


Der Abend des Angriffs beweist das – und er ist noch nicht vorbei. Weiterhin wird gebrüllt, gegen die Wohnungstür von Ronny und Monique getreten und geschlagen. Jetzt wird auch Monique lautstark bedroht: Ihr stockt auch heute noch die Stimme, wenn sie das erzählt, sie weint, verdeckt ihr Gesicht hinter ihren schmalen Fingern, den blau lackierten langen Nägeln, schluchzt. Es dauert ein paar Minuten bis sie diese vier Sätze, die einer der Neonazis an sie gerichtet hat, wiederholen kann: »Ey Blondie, deine Muschi gehört mir heute Nacht. Wenn nicht heute dann morgen. Ich bin dafür bekannt. Ich bin extra für dich mitgekommen.«


Panik. Unablässig tritt jemand gegen die Tür. Es ist dunkel. Der erste Streifenwagen mit zwei Beamten ist zu diesem Zeitpunkt schon da, aber die Polizei tut nichts. Ronny schaltet auf Notwehr. Er geht davon aus, dass die Wohnungstür der Belagerung bald nicht mehr standhalten kann. Er gibt Monique Instruktionen. Sie soll sich ein langes Messer aus dem Schrank nehmen, eins, das durch den Körper geht. Von unten nach oben rammen, Messer im Fleisch drehen, wenn möglich, nicht wieder rausziehen, sondern für den nächsten Angreifer ein neues aus dem Schrank nehmen. Ronny sammelt Messer, er bewahrt sie hinter einer milchigen Scheibe in seiner Wohnzimmervitrine auf, wie andere Leute Sektgläser. Monique steht am Fenster, das Messer in der Hand, den Blick auf die Straße gerichtet, in der anderen Hand das Handy. Zweiter Notruf um 21 Uhr 55. »Was ist der Stand?«, fragt der Beamte am anderen Ende der Leitung. Bedrohung immer noch akut. Drei, vier Nazis oben im Treppenhaus, direkt vor ihrer Wohnungstür, etwa zehn unten vor der Haustür. Die rauchen, quatschen und skandieren »frei, sozial, national«. Beamte anwesend, aber untätig.


Erst um viertel nach zehn kehrt oben vor der Wohnungstür von Ronny und Monique Ruhe ein. Vor der Haustür unten auf der Straße geht die Belagerung weiter. Monique zählt 15 Neonazis und inzwischen sieben Polizisten, sie hört durch das gekippte Fenster, wie beide Parteien sich unterhalten. Kein scharfer Ton, eher Geplauder. Eine Beamtin duzt die Täter. Personalien werden keine aufgenommen. Auch die Rucksäcke und Gürteltaschen der Angreifer werden nicht kontrolliert. Am nächsten Tag wird die Polizei eine Pressemitteilung zu dem Vorfall herausgeben, in der sie den Ablauf des Einsatzes stark beschönt. Die Täter hätten bei Eintreffen der Polizei den Wohnblock verlassen, heißt es dort. Tatsächlich hat es zwei Stunden gedauert, bis die Polizisten die Neonazis zum Weiterziehen überreden konnten. Erst um elf Uhr ist endlich Schluss.


Einen Tag nach dem Überfall werden Ronny und Monique von einem Polizisten des Staatsschutzes aus ihrer Wohnung in der Robert-Schumann-Straße abholt. Monique hat einen lilafarbenen Rucksack über die Schultern geworfen, hält einen ihrer zwei Hunde an der Leine. Ronny trägt eine Tasche, darin Näpfe, Futter, Leinen, Hundekämme und ein paar Socken, eine Hose und drei Pullover für sich. Alles andere lassen sie zurück. Was aus ihren Sachen wird, daran denken sie gerade nicht. Sie wollen nur weg. Die Neonazis erst mal nicht weiter herauszufordern, das sei jetzt wichtig, hatte ein Polizist in der Nacht noch zu ihnen gesagt. Und der Sprecher des zuständigen Polizeireviers wird auf Anfrage später erklären: »Es ist einfacher zwei Leute wegzubringen, als 30 Leute zu bewachen.« Und so passiert es auch. Etwa eine Stunde lang fährt der Polizist sie durch Sachsen, es wird dunkel, bevor sie auf dem Hof eines alten Bauernhauses ankommen, ihrem Versteck, das sie sich selbst organisiert haben – noch in der Nacht nach dem Überfall, über Facebook. Eine Bekannte hatte den Hof empfohlen und die dort lebende Wohngemeinschaft überzeugt, Ronny und Monique ein paar Tage zu verstecken. Aus ein paar Tagen werden dann vier Monate.


Wann genau Monique und ihr Freund Ronny für ihre Heimatstadt Hoyerswerda wirklich zu einem Problem wurden, ist schwer zu sagen. Denn zwei Kinder, die Rapmusik hören und mit Ausländern spielen, sind ja noch lange keine wehrhaften Gesinnungsgegner. Erst mal noch ungefährlich für die Neonazis, die in Hoyerswerda die Machtübernahme vorbereiten. Aber es gibt ein Erlebnis im Leben von Ronny und Monique, das sie geprägt hat. Eine Woche in der Geschichte ihrer Heimat, die sie dazu bewogen hat, gegen Ausländerfeindlichkeit einzustehen, nicht nur stumm dagegen zu sein.


Es ist der 18. September 1991. Neonazis belagern ein Wohnheim und bedrohen die Bewohner, hauptsächlich Vietnamesen und Mosambikaner. Monique ist zwölf, sie sitzt in ihrem Bett und liest, es ist schon sieben, dunkel draußen, aber ungewöhnlich laut: Gebrüll dringt in ihr Kinderzimmer, es riecht nach Rauch, sie hört Feuer knistern und knacken, Menschen schreien. Sie will wissen, was da los ist. Aber ihre Mutter schickt sie zurück in ihr Zimmer. Nichts sei los. Nichts, was sie etwas angehe. Sie solle das Fenster schließen.


Währenddessen steht Ronny am Tatort. Schaut zu, wie Pflastersteine ins Haus fliegen, Scheiben zerbersten, Gardinen brennen und drinnen im Haus Menschen verzweifelt hin- und herrennen. Die Neonazis schmeißen Molotowcocktails, versuchen, durch die kaputten Fenster ins Haus zu zielen, die Anwohner bejubeln jeden Treffer, sie rufen »Ausländer raus!« oder »Brennt die Bude doch ab!«. Ronny steht da und weint.


Zu Hause wurde nie darüber gesprochen, was an diesen Tagen in Hoyerswerda passiert ist: 120 ausländische Vertragsarbeiter wurden von etwa 40 Neonazis mit dem Tod bedroht. Rund 600 Anwohner haben die Hetze mit Zustimmung begleitet. Am dritten Tag wurden die Opfer aus dem Ort gebracht und abgeschoben. Daraufhin nahmen sich die Neonazis das Flüchtlingswohnheim vor. Wieder Todesdrohungen, wieder kaputte Fenster, wieder Molotowcocktails, wieder mit Zustimmung vieler Anwohner. Und wieder kommt die Polizei zu dem Schluss, dass »eine endgültige Problemlösung nur durch Ausreise der Ausländer geschaffen werden kann«. Wenn die Nazis nicht provoziert werden, gibts auch kein Progrom – so geht Logik in Hoyerswerda.


Danach war nichts mehr, wie es war. Zu viele hatten zugesehen, mitgegrölt und abgeklatscht. Der Rest von Deutschland war fassungslos, erschüttert, verurteilte die ganze Stadt. Und in Hoyerswerda? Rückte man zusammen. Wo trotzige Rechtfertigungen gebraucht wurden, waren die Parolen der Rechten zur Stelle. War doch gar nicht so schlimm, was wollten die auch hier, selber Schuld, erst mal Arbeit für Deutsche und überhaupt. Wer anderer Meinung war, war ein Verräter. Die Rechtsradikalen wurden laut und selbstbewusst, fingen an, »Leute wegzufangen«, wie Ronny sagt. Monique und er wurden oft weggefangen. Dann kriegte man ein, zwei Schläge ins Gesicht und ein paar Tritte in die Rippen, dann durfte man wieder laufen und sich noch mal überlegen, ob man nicht doch lieber rechts sein möchte. Aber Ronny und Monique hatten sich entschieden. Fortan trugen sie rote Nickitücher ums Handgelenk als Zeichen, dass sie sich gegen Ausländerhass einsetzen würden. Die Neonazis trugen weiße Tücher. 1991 war das Jahr der Entscheidung. Dafür oder dagegen? Rechts oder links? Mitte gilt nicht.


Seitdem sind mehr als 20 Jahre vergangen. Aber wer heute durch Hoyerswerda geht, kann sehen, wie man sich hier entschieden hat. Neonazis gehören zum Stadtbild. In dunkler Montur, mit festen Schuhen mit glänzenden Kappen und Neonazi-Aufnähern am Kapuzen-Sweatshirt stehen sie neben dem Netto-Discounter an der Albert-Schweitzer-Straße, neben dem Bäcker am Lausitzer Platz und an anderen zentralen Orten. Sie grölen, tönen, machen Schussgeräusche, und wenn man ihnen den Rücken zudreht, rotzen sie hinter einem auf den Boden oder treten gegen Mülleimer. Wer sich erschrocken umdreht, wird verhöhnt. Sie genießen die Angst der Passanten. Wer kann, ist längst aus Hoyerswerda weggezogen. Die Einwohnerzahl hat sich seit 1991 fast halbiert. Ausländer sieht man ohnehin kaum, sie machen hier nur 1,3 Prozent der Bevölkerung aus. In vielen deutschen Kleinstädten ist ein Ausländeranteil von acht Prozent üblich. Im Bundesdurchschnitt sind es zehn Prozent.


Als Nächstes, so scheint es, wollen die Neonazis ihre Gesinnungsgegner loswerden. Die Opferhilfe Sachsen hat für ihr Bundesland im vergangenen Jahr 999 Opfer rechts motivierter Gewalt dokumentiert. 2012 richteten sich mehr Angriffe gegen politische Gegner der Rechten als gegen Ausländer oder ausländisch aussehende Menschen selbst. Gegen Couragierte, die ihre Heimat lieben und nicht aufgeben wollen. So wie Ronny und Monique. Auch im Landtag von Sachsen wird der Fall der beiden 34-Jährigen diskutiert. Die Linken bringen einen Antrag ein; fordern Aufklärung über die Versäumnisse der Polizei an jenem Abend und besseren Opferschutz für alle, die sich gegen rechte Gewalt starkmachen. Grüne und SPD stimmen dafür. Sachsens Innenminister Markus Ulbig windet sich; räumt zwar ein, dass Sachsen ein Problem mit Rechtsextremismus habe und dass es eigentlich nicht angehe, dass die Bürger in ihrem Zuhause nicht mehr sicher seien. Aber dann stimmt seine Partei, die CDU, gegen den Antrag. Genau wie FDP und NPD.


2. Februar 2013. Dunkle Schneereste säumen den schmalen Schotterweg, der zu dem Bauernhaus führt, in dem die beiden leben. Seit drei Monaten sind sie schon hier. Eine Wohngemeinschaft aus Sozialpädagogen, Lehrerinnen und Politikern hat sie aufgenommen und ihnen ein Zimmer frei geräumt. Acht Quadratmeter teilen sich nun Ronny und Monique mit ihren zwei Hunden. Auf dem Boden liegt eine Matratze, rechts daneben steht auf einem Hocker Moniques Laptop, zwei Nagelackfläschchen, ein Nagellackentferner, eine Feile. Monique beschäftigt sich gern mit ihren Nägeln. Selbst hier, wo sie Jogginghose trägt, das Gesicht rot an Wangen und Nase vom vielen Weinen, die Augen verquollen, die Blondierung zwei Fingerbreit rausgewachsen, sind ihre Nägel perfekt lackiert. Sie macht das gern, es beruhigt sie und dauert gerade so lange, wie sie sich konzentrieren kann, ohne Kopfweh zu bekommen.


Bei Ronny genauso: Er hat früher auf RTL 2 gern eine Sendung geguckt, in der Experten irgendwelchen Leuten dabei helfen, den Krempel aus ihrem Keller zu Geld zu machen. Diese Sendung dauert eine halbe Stunde. Ronny kann ihr nicht mehr folgen. Hunger haben sie auch keinen. Unter Ronnys Wangenknochen verläuft ein dunkler Schatten, so eingefallen sind die Wangen, auch seine Augen sind rot. Jeder Tag ist gleich: Sie haben Angst, Langeweile und rauchen. Ronny malt manchmal mit Filzstiften Vorlagen für Graffiti in einen Malblock. Er hat früher viel gesprüht, Hakenkreuze mit Peace-Zeichen übermalt. Den Block und die Stifte haben ihm seine Mitbewohner aus dem nächstgelegenen Kaufland mitgebracht. Er selbst und Monique können dort nicht hin. Sie würden sofort auffallen. Nur mit den Hunden gehen sie raus, aber bleiben immer in der Nähe des Hauses, am Waldrand. Sonst gibt es nichts zu tun für sie. Das macht ihnen am meisten zu schaffen. Manchmal schreiben ihnen Bekannte aus Hoyerswerda Nachrichten über Facebook, dass nun, wo sie weg sind, niemand mehr irgendwas tut gegen die Rechten.


Von 2500 gewaltbereiten Neonazis in Sachsen geht der Verfassungsschutz aus, von etwa 25 in Hoyerswerda. Aber 25 Leute sind mächtig, wenn alle anderen Einwohner ihre Meinung nicht mehr laut aussprechen. Am Abend des Überfalls hat eine Nachbarin die Tür geöffnet, um nachzusehen, woher der Lärm kam. Als sie sah, wer dort pöbelt, hat sie sie gleich wieder zugezogen und abgeschlossen. Auch sie saß über Stunden im Dunklen, auch ihr Spion an der Wohnungstür war abgeklebt, aber Anzeige erstatten will sie nicht. So schlimm war es ja nicht. Selbst anonym will keiner der Anwohner über den Abend reden. Keiner hat was gehört, keiner was gesehen. Und während alle damit beschäftigt sind, sich nicht einzumischen, machen die Neonazis sich breit.


Häuserfassaden, Ladenlokale, Mülleimer, Lampenmasten, Sitzbänke – alle städtischen Flächen sind mit rechtsradikalen Phrasen besprüht, mit Plakaten tapeziert oder Aufklebern beklebt. Seit Ronny und Monique nicht mehr in Hoyerswerda leben, gibt es wieder zwei Menschen weniger, die sich dagegen wehren. Alle paar Tage haben Ronny und Monique ihre Tour gemacht, durch die Plattenbausiedlung, in der sie lebten, vorbei am Lausitz-Center, bis rüber zum Büro der Linken in der Dietrich-Bonhoeffer-Straße. Jeden Nazi-Aufkleber, den sie gesehen haben, haben sie abgekratzt. Früher war Ronny mal radikaler unterwegs. Als Jugendlicher hat er viele Monate im Gefängnis gesessen, wegen Körperverletzung. Seine Clique aus Türken und Linken geriet immer wieder in Kämpfe mit den Neonazis – und er hat oft zu fest zugeschlagen. Als er rauskam aus dem Jugendgefängnis, er war damals 22, hat er sich geschworen, sich von dieser Art Ärger fernzuhalten. Aber keine Haltung mehr haben, das kann er nicht. Deshalb entfernten sie Aufkleber. Es ist eine ruhige Art des Protests: Hand in Hand gingen die beiden durch die Straßen ihrer Stadt, haben sich unterhalten und zwischendurch an irgendwelchen Masten herumgeschabt. Klingt harmlos, aber war offenbar ein Problem. Das hatte der Neonazi damals vor ihrer Tür gemeint, als er gebrüllt hat, die beiden hätten ihn und seine Kameraden nun lange genug provoziert.


Ende Februar 2013 finden Ronny und Monique endlich eine Wohnung in einer deutschen Großstadt. Den Umzug haben sie unter Polizeischutz gemacht, ihre Mütter hatten ihn vorbereitet. Abends, wenn es schon dunkel wurde, waren sie mit Taschenlampen in die Wohnung ihrer Kinder geschlichen und hatten Kartons gepackt. Als sie am Abend an ihrem neuen Wohnort ankommen, fühlen sie das erste Mal seit Monaten wieder Hoffnung. Es wird schon gehen, denken sie. Alles wird besser werden. Aber die Angst holt sie bereits nach ein paar Tagen wieder ein. Wenn sie durch ihre neue Stadt gehen, gehen sie schnell. Den Weg legen sie vorher auf dem Stadtplan fest. Sie durchqueren nur Viertel, in denen mehrheitlich grün, rot oder links gewählt wird. Wenn sie Neonazis sehen, schauen sie weg. Und sie sehen ständig welche. Die Stadt ist eine andere, durch ihre Augen betrachtet, weil sie alle Codes erkennen: Sie bemerken jedes noch so kleine Thor-Steinar-Logo, sie achten auf den Sitz von Gürteltaschen, wie Tücher gebunden sind, sie bemerken weiße Schnürsenkel in schwarzen Schuhen; Zeichen, Farben, Zahlenkombinationen – alles lässt sie aufschrecken. Monique zieht Ronny an rechten Aufklebern vorbei. Und Ronny ermahnt Monique, nicht nächtelang auf den Facebook-Profilen der Täter herumzuhängen. Sie können sich immer noch nicht konzentrieren, nicht mal für die Dauer einer Doku-Soap auf RTL 2. Sie leben von Hartz IV, vorher in Hoyerswerda hatte Monique einen Job im Edeka. Immerhin. Eigentlich ist sie Kauffrau für Bürokommunikation und Tischlerin. Aber in ihren beiden Berufen gab es in Hoyerswerda keine Arbeit. Ronny ist Forstwirt, aber für ihn gab es auch nichts. Im August 2013 lag Ronny zwei Wochen im Krankenhaus. Seine Lunge ist wieder zusammengeklappt, so wie damals, eine Woche nach dem Überfall. Stress, sagen die Ärzte. Von Monat zu Monat werden die beiden schmaler, die Schatten unter ihren Wangenknochen dunkler. »So wie unser Leben jetzt gerade ist, darf es nicht mehr lange bleiben«, sagt Monique. Sie haben keine Kraft mehr.


Am 19. November wird der Fall von Ronny und Monique am Jugendgericht von Hoyerswerda verhandelt werden. Die beiden haben Angst vor dem Prozess. Dabei ist ihnen das Strafmaß für die Täter völlig egal. Sie wollen nur eins, dass endlich mal festgestellt wird, dass nicht sie das Problem sind.

 


 

 Fotos von Armin Smailovic und Christiane Wöhler