Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn man immer mehr wie die eigene Mutter wird?
Meine Muttermorphose begann vor ein paar Jahren. Zunächst waren es harmlose Verhaltensweisen, die ich von meiner Mutter übernommen habe. So was wie: mir selbst Blumen kaufen. Oder auf Flugreisen bequeme Unterhosen anziehen. Aber dabei ist es nicht geblieben: Ich schmiere inzwischen für jede noch so kurze Autofahrt Butterbrote, habe Wollsocken in der Handtasche, lecke mir zum Magazinedurchblättern die Zeigerfingerkuppen an, beschimpfe andere Verkehrsteilnehmer, bügle Geschirrtücher, lache aus Höflichkeit, wische das Spülbecken trocken und kann es nicht leiden, wenn Leute vor mir langsam oder hinter mir schnell gehen. Seit einer Weile führe ich im Supermarkt Selbstgespräche.
»Du wirst wie deine Mutter«: In Kinokomödien ist das immer der letzte Satz vor dem ganz großen Streit. Im echten Leben ist es genauso. Wer schon mal bei einem Pärchenabend war, bei dem die Gastgeber einander auf diese Art attackieren, wünscht sich, jemand hätte Teller an die Wand geschmissen.
Es gibt ein eigenes Wort für die Angst, wie die Mutter zu werden: Matrophobie. Und wie bei jeder anderen Angst gibt es auch die Infrastruktur, die sie nährt – und bekämpft. Frauenmagazine bieten Psychotests: »Sind Sie schon wie Ihre Mutter?« Dann erklärt ein Familientherapeut, wie man dem entgegensteuert. Im Buchladen füllen Mütter-Töchter-Beziehungsratgeber ein Regalbrett. Wem das Selbststudium nicht reicht, besucht ein Seminar: Die Bonner Soziologin Marianne Krüll tingelt seit Jahren mit dem Thema durch die Republik und ist immer ausgebucht. Es scheint, als wolle halb Deutschland mit ihr im Stuhlkreis sitzen und darüber klagen, wie kompliziert und zwiespältig das Verhältnis zur Mutter ist. Der Philosoph Peter Sloterdijk sagt, die Moderne sei das Zeitalter der immer unähnlicheren Kinder, weil »die Jungen erst gar nicht anfangen, werden zu wollen wie ihre Eltern«. Fast hätte ich das Interview ausgeschnitten und meiner Schwester geschickt. Die wird nämlich auch wie unsere Mutter. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten. Denn Zeitungsartikel ausschneiden und per Post quer durchs Land schicken: Das ist ein Klassiker meiner Mutter.
Aber ist wirklich der Individualismus schuld, dass niemand mehr sein möchte wie Mama? Oder haben fast alle Mütter fast alles falsch gemacht? Vielleicht ist der Punkt auch, dass viele Mütter so sind wie meine. Sie kocht mir mein Lieblingsessen, wenn ich zu ihr fahre. Wenn sie zu mir kommt, bringt sie es mit. Sie kennt jeden Geburtstag auswendig und versäumt nie anzurufen. Sie bestellt nicht bei Amazon, trennt den Müll, benutzt keine Plastiktüten. Ihr gehen nie Tesa-, Klo- und Alufolierollen aus. Sie heftet alles sofort ab und kocht leckere Sachen aus Resten. Sie schickt mir zur Wiesn Kopfschmerztabletten, im Winter Zinkkapseln, und wenn ich mich aufs Sofa lege, deckt sie mich zu bis unters Kinn. Sie schaut nie aufs Handy, während man ihr was erzählt. Sie kann Nacken kraulen, Haare kämmen, Fingernägel lackieren und sagt nie Nein, wenn man sie bittet. Sie ist seit Jahrzehnten morgens als Erste wach, merkt sich von jedem, wie er sein Ei mag. Sie schreibt aus dem Urlaub Karten und bringt Geschenke mit, für Platz im Koffer lässt sie auch mal ein Paar Schuhe zurück.
Bei ihr zu Besuch zu sein, ist wie Urlaub. Sie zu Besuch zu haben, ist wie Urlaub. Aber ganz so werden wie sie möchte ich trotzdem nicht: Es ist mir einfach zu viel Arbeit.