Hans W. Geißendörfer ist seit dreißig Jahren der Kopf der Lindenstraße. Nun ist er 74 und will in Rente. Seine Tochter übernimmt - aber wie vererbt man eine Serie?
Das macht Hans W. Geißendörfer automatisch. Wenn er in der Lindenstraße ankommt, streift er die Straßenschuhe ab und schlüpft in seine Filzpantoffeln. Mit denen sitzt er dann bei Oli im Schnitt und schaut sich die neuen Szenen an. Mit denen geht er in der Kantine und isst dort seinen Nudelauflauf, und mit denen tritt er raus in die Kulisse und prüft das Licht. Abends, bevor er nach Hause geht, zieht er die Filzschlappen aus und stellt sie fein säuberlich neben seinen Schreibtisch. Irgendwann war das mal ein selbstironischer Kommentar auf die kleinbürgerliche Welt seiner Lindenstraße. Heute ist es einfach Gewohnheit. Und bequem.
Geißendörfer hat die Lindenstraße nicht nur erfunden, an den Drehbüchern mitgearbeitet und sie produziert. Sein ganzes halbes Leben steckt da drin. Dreißig Jahre macht er die Serie nun schon. Sie ist Deutschlands älteste Vorabendserie. Ein Relikt, sagen die einen. Eine Institution, sagen die anderen. Mehr als 1500 Folgen deutsches Leben, 71 000 Seiten Drehbuch, 250 Hauptrollen, 2100 Gastrollen, 24 000 Komparsen, 150 Meter Außenkulisse, 2500 Quadratmeter Studios, in denen 14 Wohnungen Platz haben. Und dann noch der lange Bürogang, an dessen Wänden alle Menschen hängen, die je an der Lindenstraße mitgewirkt haben. Sepiafarbene Porträtfotos hinter schwarzen Passepartouts in dunkelbraunem Holzrahmen: Til Schweiger hängt dort, Harry Rowohlt, Marie Luise Marjan, Annemarie Wendl, Willi Herren, Liz Baffoe. Fernsehgeschichte am laufenden Meter.
Mit Anfang vierzig hat er angefangen, heute ist er 74. Die meisten anderen sind zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre in Rente. Und auch Geißendörfer will runterschalten. Seine drei Töchter sind längst erwachsen, die Ehe mit seiner britischen Frau Jane hat gehalten, das erste Enkelkind wurde gerade geboren. Er hat eine Villa auf Rhodos, eine Wohnung in London. Auf ihn wartet ein Leben zwischen Sonnenterrasse und Tate Gallery. Und diesen einen Dokumentarfilm über die Zukunft der Ozeane will er auch noch unbedingt drehen. Aber wohin nur mit den Beimers, Iffi Zenker und Dr. Dressler? Serie abzugeben in gute Hände. Er braucht einen Nachfolger.
Kann doch nicht so schwer sein. Jedes Jahr werden in Deutschland Firmen vererbt. Stramme Söhne übernehmen die Betriebe ihrer Väter, die sie schon von ihren Vätern übernommen haben. Und die verblichenen Fotos der ganzen Dynastie hängen dann in der Werkshalle. Aber wie vererbt man eine Serie? Es gibt keine Maschinen, keine Werkshallen, kein Produkt zum Anfassen, nur eine Kulisse. Was Geißendörfer zu vererben hat, sind eine Bühne und 75 Mitarbeiter, die darauf eine Geschichte erzählen. Routiniert zwar, und trotzdem: Die Geschichte muss immer neu erdacht werden. Aber Kinder hat er. Drei sogar. Da muss sich doch ein Weg finden lassen. In der modernen Wissensgesellschaft vererbt man eben Ideen.
Das Projekt Serienvermächtnis startet am 14. April 2008 mit einer Mail vom Vater an die mittlere von drei Töchtern, darin nennt er ihr das Datum für ihren Praktikumsstart und endet so: »Die Lindenstraßler lernen Dich kennen und werden merken, dass Du ein guter Typ bist und werden bald vergessen, dass Du rein zufällig nun eben die Tochter vom Boss bist. Umarmung, Dein Papa.«
Am 15. Dezember 2014 endet das Projekt, wieder mit einer Mail, der Betreff diesmal: »Brief von Hans an Team und Ensemble«. Hana sei jetzt weisungsbefugt, steht da drin. »Meine Tochter übernimmt von mir die Leitung aller kreativen Prozesse.«
Zwischen den beiden Mails liegen sechs Jahre, in denen Hana Geißendörfer von ihrem Vater gelernt hat, wie man die Lindenstraße macht. Und in denen Hans Geißendörfer lernen musste, dass man es auch anders machen kann als er.
Hana steht in ihrem Zimmer und föhnt sich die Haare. Ihr Vater stolpert ein Stockwerk höher durch die Küche auf der Suche nach Kamillentee zum Gurgeln. Es ist Januar und kalt, Geißendörfer ist krank, in der einen Hand ein geknäultes Papiertaschentuch, mit der anderen fährt er durch die Schränke. Dass sie noch mal zusammenleben würden, hat sich Hana Geißendörfer nicht träumen lassen, als sie aus der Familienwohnung in London zog, um in Bristol Volkswirtschaft und danach in Paris Regie zu studieren. Aber jetzt ist es doch so. Die Wohnung, die sie sich teilen, liegt im Belgischen Viertel in Köln. Einer Gegend, in der es nur dann neuen Wohnraum zu erwerben gibt, wenn irgendwo das Dach ausgebaut wurde. Es ist diesig an diesem Morgen, aber die Himmelsrichtung stimmt: eine Wohnung mit Domblick, in Köln das Äquivalent zum Meerblick. Hier oben sind sie Vater und Tochter: Er sagt ihr, sie solle doch auch mal was Ordentliches frühstücken, sie sagt ihm, er möge bitte ein neues Taschentuch nehmen, weil das alte schon ganz zerfleddert sei.
Ihr gemeinsamer Arbeitstag beginnt im Auto, zwanzig Minuten Fahrt aus dem Belgischen Viertel raus ins Studio nach Bocklemünd. »Alles, was ich übers Lindenstraßemachen weiß, hat er mir auf dieser Strecke gesagt.« Der hellgraue BMW X3 mit dem Lindenstraßen-Schriftzug auf beiden Seiten ist der mobile Ausbildungsplatz. Hana soll alles übernehmen, was Hans bisher gemacht hat – und das ist einiges: Er ist Chef-Autor, genehmigt also alle Drehbücher und entwickelt sie auch mit. Er nimmt fertige Folgen ab. Er ist Castingchef; begutachtet neue Schauspieler und stellt sie ein. Er ist Produzent, in dieser Funktion verhandelt er mit dem WDR über Laufzeiten, Budget und Ausrüstung. Im Grunde ist er für alles die letzte Instanz. Sogar für Privatangelegenheiten der Schauspieler: Als Rebecca Siemoneit-Barum, ein Serienkind, das mit 13 Jahren in der Linden-straße anfing, Anfang des Jahres ins Dschungelcamp einziehen wollte, hat Geißendörfer mit RTL über die Gage für seine Iffi verhandelt.
Das, was Hans Geißendörfer nur seiner Tochter sagen will, sagt er ihr im Auto. Etwa wie man die Autoren dazu bringt, pünktlich die Drehbücher abzugeben, wie man mit dem Sender über Gelder verhandelt und wie man den Schauspielern am besten sagt, dass sie zu dick sind. Klausi Beimer etwa habe da so eine Veranlagung. »Deswegen boxt er ja jetzt«, sagt Hans. »Nein, Papa, Mensch, er verarbeitet im Boxclub ein Trauma, deswegen haben wir ihn dahin geschickt«, sagt Hana. »Also ich hab ihn dahin geschickt, dass er abnimmt.« So redet Geißendörfer gern. Ruppig, klar, kein Wort zu viel.
Er ist ein Cowboy. Legendär ist die Geschichte, wie er die Lindenstraße vor dreißig Jahren im Programm untergebracht hat. Der Widerstand war groß unter den Intendanten der ARD, eine Serie über das ganz normale Leben? Wie öde. Das normale Leben hatten diese grauen Herren alle zu Hause, wer will so was schon sehen? Geißendörfer aber war sich sicher. Er stapfte also in eine Intendantenversammlung, zu der er nicht eingeladen war, und wollte von seinem Projekt überzeugen. In der Hand eine VHS-Kassette mit kurzen Porträts aller Familien, die in der Lindenstraße wohnen sollten. Guerilla-Marketing würde man das heute nennen. Die alten Herren fanden es einfach nur frech. Sie ließen ihn rausschmeißen. Den Trailer schauten sie sich trotzdem an. Beim nächsten Mal war Geißendörfer eingeladen und bekam ein Ja.
Das hat ihn geprägt: Was man will, muss man anpacken, was man unbedingt will, muss man härter anpacken, und wenn jemand was dagegen hat, muss man es erst recht machen, denn dann ist es gut.
Friedrich Nowottny, der damals als Intendant des WDR die neu eingeführte Lindenstraße verantwortete, bestellte Geißendörfer hin und wieder zu sich. Zu bereden gab es viel. »Bei der Lindenstraße stimmte ja am Anfang gar nichts, das Licht nicht, die Deko nicht, und es gab ungeheure Reaktionen von den Zuschauern. Die waren entsetzt«, sagt Nowottny. Aber die Gespräche in Nowottnys Büro verliefen nicht, wie der Intendant sich das gedacht hatte. Geißendörfer war keiner, dem man die Leviten lesen konnte, sagt Nowottny. »Der las sie einem zurück.« Angriff ist seine Verteidigung. Hana funktioniert anders. »Ohne die Unterstützung aller hier könnte ich das gar nicht machen«, sagt sie. Wenn sie durch die Gänge geht, schaut sie in jedes Zimmer, und wenn es die Möglichkeit gibt, etwas Nettes zu sagen, dann tut sie das. Sie kommentiert Kinderbilder, gratuliert zum Geburtstag, fragt, wie es weiterging in dieser Sache, über die man neulich schon gequatscht hat. Oft verfällt sie in eine Art Spaßdialekt, der ein bisschen kölsch und ein bisschen hanseatisch klingt, aber immer herzlicher als die klare Ansage. Und als ihr Setdesigner Manfred und sie gemeinsam in der griechischen Taverne stehen und er vorschlägt, die Wand hinter dem Tresen zu verspiegeln, »für mehr Tiefe«, lobt ihn Hana überschwänglich für die »tolle Idee« – und hakt danach wortlos diesen Punkt auf ihrer Liste ab: Das hatte sie sowieso vor. Sie ist so höflich, dass der Kameraassistent Tim schon meint, sie da an etwas erinnern zu müssen: »Hör auf zu fragen, du bist der Boss.«
Hana hat den leisen Weg nach oben gewählt. Bereits die Art, wie sie sich selbst in der Lindenstraße eingeführt hat, war feinfühlig. Ihr Vater hatte ihr eigentlich eine Stelle als Regieassistentin besorgt. Als das nicht klappte, kam Hana trotzdem zum vereinbarten Praktikumsbeginn in die Lindenstraße und ließ sich einteilen, wo die anderen sie brauchen konnten. Sie fing 2008 im kleinsten Büro an, das die Lindenstraße aufbieten kann. Es liegt am Ende des Ganges, vorletzte Tür. Dahinter kommt nur noch der Notausgang. Manchmal musste sie kaputte Drehstühle beiseite schieben, um in ihr Büro zu gelangen. Dort saß sie dann und digitalisierte Tonbänder: Band rein, Play, Record, 45 Minuten warten, »Speichern unter« und dann das nächste Band rein. Es war, als wollte Hana Geißendörfer ganz sicher gehen, dass niemand denkt, sie kriege hier etwas geschenkt. Niemand sollte nachher sagen können, der verwöhnten Tochter sei die Vorabendserie zugeflogen.
Nach dem Digitalisieren der Bänder lernte sie Cutten. Dann erst machte sie ein Praktikum in der Regie, später hospitierte sie in der Drehbuchabteilung, schrieb an Drehbüchern mit und schließlich ganze eigene Folgen. Ihr erste eigene Folge war die mit der Nummer 1427 und dem Titel: »Die verlorene Tochter«. Kinder, die aus dem Nichts auftauchen, sind beliebte Topoi in Vorabendserien. Hana ist dann alles andere als aus dem Nichts aufgetaucht. Als sie Anfang 2015 Produzentin wurde, war sie seit sechs Jahren an Bord. Hatte jeden Produktionsschritt durchlaufen, alles selbst gelernt. Sorgsam und unauffällig.
Figuren einzuführen ist das Basishandwerk beim Serienmachen. Ständig muss man neue Charaktere einweben in das dichte Beziehungsnetz, das schon besteht. Eine Figur, die groß und wichtig werden soll, wird eher beiläufig vorgestellt und bekommt dann Zeit, sich zu entwickeln. Die Figur rennt etwa auf der Straße zufällig einen bekannten Protagonisten über den Haufen, dann stellt sich heraus, dass sie ihre geliebte Tante sucht. Jene Tante ist dann natürlich eine der Hauptfiguren, und so hat man Gelegenheit, die Neue immer mal wieder an deren Küchentisch zu setzen. Irgendwann verliebt sich die Neue, die nun nicht mehr die Neue ist, sondern die Nichte von jemandem, in einen etablierten Sympathieträger, heiratet ihn und übernimmt dessen Glaubwürdigkeit, wenn er stirbt. Und alle haben das Gefühl, die Neue, also die Nichte, beziehungsweise die Ehefrau, sei schon immer da gewesen. Das ist Grundkurs Serienwesen. Und im echten Leben funktioniert das auch. Wie gut sie Figuren einführen kann, hat Hana an sich selbst bewiesen; sie ist ihr eigenes Gesellenstück.
Diese zurückhaltende Hana hatte Hans Geißendörfer gar nicht gekannt, bevor sie hinter der vorletzten Tür ihr Praktikum antrat. Zu Hause mit ihren Schwestern und in der Familie sei sie immer laut gewesen, bestimmt und auch mal stur. Mehr so wie er. In der Lindenstraße hat er seine Tochter neu kennengelernt. »Sie hat sich hier reingefunden. Sie respektiert alle, ist nett, und das funktioniert«, sagt Hans Geißendörfer und zuckt dazu die Achseln, als würde er sich immer noch darüber wundern. Hana sagt auch mal Sätze wie: »Manchmal hab ich den Eindruck, die Kollegen vertrauen mir mehr als ich mir selbst.« Und dass es komisch sei, alles entscheiden zu dürfen, so viel Verantwortung zu haben. So reden kann sie aber eigentlich nur, wenn ihr Vater gerade nicht dabei ist. Er würde sofort eingreifen. Immer wenn sie etwas äußert, was nachdenklich ist, zweifelnd, was Schwäche offenbart, stellt Geißendörfer klar, dass seine Tochter die Arbeit ganz hervorragend mache. Dass beides gleichzeitig möglich ist, Befähigung und Selbstzweifel, ist ihm wesensfremd. Insofern stimmt, was man vermuten würde: Hana hat den Job nur bekommen, weil sie seine Tochter ist. Sie kann ihn, aber er hätte das womöglich nicht gesehen, wenn diese Dreißigjährige, die so anders agiert als er, nicht seine Tochter wäre. Er hat die Lindenstraße mit Durchsetzungskraft, gegen Widerstand, mit Sturheit und ein bisschen Dreistigkeit aufgestellt. Und so macht er es bis heute.
Hans Geißendörfer sagt: »Der deutsche Zustand bin ich.« Das stimmte auch mal. Es ist bloß sehr lange her. Am Anfang waren die Fernsehkritiker skeptisch und die ARD ängstlich, nur Geißendörfer glaubte an sein Projekt. Dann kamen plötzlich die Zuschauer. Die Zahlen lagen in den Hochzeiten bei 15 Millionen. Eine Identifikation wie nie. Wenn in der Lindenstraße eine Wohnung frei wurde, bewarben sich Hunderte von Zuschauern als Mieter. Erkrankte jemand schwer, bewarben sie sich als Pfleger, und wenn jemand den Serientod starb, kamen Kondolenzkarten. Als die Linden-straße 1997 für einen Tag den Zuschauern ihre Türen öffnete, wollten so viele Menschen nach Köln-Bocklemünd, dass sich auf der A1, kurz vor der Abfahrt zum Sendegelände, kilometerweit die Autos stauten.
Bis weit in die Neunzigerjahre erreichte Geißendörfer im Schnitt sieben Millionen Menschen pro Folge. Am Sonntag sah man sich die Lindenstraße an. Und am Montag sprach man drüber. Seine Gedankenwelt war Gesprächsthema. Und seine Gedankenwelt war neu.
Er, der Internatsjunge aus Franken, der Halbwaise, war 1985 angetreten, das echte Leben abzubilden, konsequent, mit allem, was dazugehört. Ein politisches Format wollte er machen, ein Gegenprogramm zu Traumschiffduselei und Schwarzwaldklinikgeschäker. Bei ihm sollte es echt zugehen. Die Leute sollten trinken, fluchen, hassen, fremdgehen, er ließ sie Asylbewerberheime anzünden, Kinder abtreiben und an Aids sterben. Und immer wieder schrieb er seinen Darstellern Seitenhiebe auf die große Politik ins Skript. »Gauweiler und Co, das sind alles Faschisten«, war einer von vielen. Ein Jahr nachdem Geißendörfer von den Intendanten sein »Ja« bekommen hatte, hörte er schon wieder ein »Nein«: Die grauen Herren pfiffen ihn zurück, seine Serie müsse harmloser werden, er dürfe keine Schwulen mehr zeigen. Und schon gar nicht direkt nach der Sportschau und so kurz vor der Tagesschau, nicht in ihrer heilen Welt. Für Geißendörfer war das verletzte Moralempfinden der situierten Herren ein Ansporn: Kurzerhand schrieb er seinen beiden Schwulen einen Zungenkuss ins Drehbuch. So wurde die Lindenstraße zum öffentlich-rechtlichen Tabubrecher. Und Geißendörfer, bei dem zumindest eine seiner Figuren aus solchen Tabubrüchen auch etwas Wertvolles lernte, hatte schnell den Ruf weg, ein Kammerspiel mit Gutmenschen aufzuführen: Pfarrerfernsehen, SozPäd-TV. »Oberlehrer« hieß er im Feuilleton. Geißendörfer hat das nie gestört. Es hat ihn bestärkt. Natürlich.
Irgendwann wurden die Kritiker milder. 2001 bekam Geißendörfer nach der Goldenen Kamera und dem Bambi noch den renommierten Grimme-Preis. Wenn auch, wie die Jury betont, mehr für sein Durchhaltevermögen als für den künstlerischen Anspruch der Serie. Und im vergangenen Jahr erschien im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein liebevoll-spöttischer Artikel, der die Lindenstraße als Urserie feierte. Alle Topoi, heißt es in dem Text, die in US-Serien von Breaking Bad bis Homeland auftauchen, seien in der Lindenstraße schon vor Jahren verhandelt worden. Dass die Kritik nachsichtig geworden ist, nutzt aber nichts: Ihm bricht die Quote weg. 2004 waren es im Jahresdurchschnitt noch viereinhalb Millionen Zuschauer, 2008 waren es dreieinhalb, 2014 nur noch zweieinhalb.
Es ist kurz hinter Neuehrenfeld, die beiden Geißendörfers sitzen wieder im Produktionsauto, dem silbernen BMW X3 mit den Lindenstraßen-Aufklebern an den Seiten. Aber die Rollen haben sich verschoben. Da sitzt nicht mehr Hans, der Cowboy, der Schauspielern ein neues Hobby ins Drehbuch schreibt, damit sie endlich abnehmen. Er äußert eine Bitte: »Mach nicht alles so bunt«, sagt Geißendörfer. Es ist Ende Januar 2015, seit ein paar Wochen ist Hana im Amt. Und das merkt man nicht nur hier im Auto, das jetzt kein Ausbildungsmobil mehr ist. Auch im Büro ist der Wechsel sichtbar. Hana schaut jetzt auf die Tür, wenn sie am Schreibtisch sitzt, Hans hat die Tür im Rücken. Die Sprache der Macht mit den begrenzten Mitteln der Büromöbel. Hans W. Geißendörfers – das W. steht für Wilhelm – Tisch ist fast leer, auf Hanas kleben überall Post-its, es liegen Drehpläne herum, und der Regie-Monitor ist zu ihr gedreht: So kann sie vom Schreibtisch aus verfolgen, was gerade ein paar Meter weiter gedreht wird.
Gleich als erste Amtshandlung in ihrer neuen Position hat Hana eine Drehbuchsitzung geleitet. Jene achttägigen Kreativtreffen in einem Berliner Hotel, bei denen der Plot festgelegt wird: Wen trifft wann welcher Schicksalsschlag? Ihr Vater ist zum ersten Mal seit dreißig Jahren nicht dabei gewesen. Aber Einfluss nehmen will er trotzdem. Ende der Woche fliegt er nach Australien, recherchieren für seine Doku über die Ozeane, danach ist er in London, um den ersten Enkel willkommen zu heißen, dann Rhodos, nach dem Haus schauen, dann wieder London, seine andere Tochter läuft beim Marathon mit. Er muss die Lindenstraße jetzt loslassen, trotzdem, diese eine Bitte noch – mach nicht alles so bunt. Seit der WDR ihm Modebloggerinnen und Inneneinrichter in die Innovationsmeetings setzt, ist das seine große Sorge: seine Gesellschaftsstudie als bonbonbunte, süße Wohnwelt, in der alle cool und fröhlich sind.
So wie er es gemacht hat, ist es doch viel spannender: Echte deutsche Themen wie Moscheebau, Kinderwunschbehandlung, Pegida-Rassismus, Gentrifizierung der Innenstädte. Bildet die Lindenstraße doch alles ab. Wenn Geißendörfer etwas Nettes über den WDR sagen will, dann sagt er: »Es gibt keine Zensur.« Er definiert seine Serie über das, was er ansprechen darf. Wie politisch er werden kann. Und wie provokant. Immer noch. Darüber hat er total versäumt, mal den Supermarkt in der Lindenstraße zu renovieren. Erst seine Tochter hat ihn daran erinnert, dass so kein Lebensmittelladen mehr aussieht. Nicht mal auf dem Land. Nicht mal im Osten.
Hana ist auf Rhodos aufgewachsen, zur Schule ging sie in London, studiert hat sie in Paris. Sie ist Europäerin. Erst für den Job hinter der vorletzten Tür auf dem Gang ist sie nach Deutschland gekommen. Sie muss sich an diesem Land nicht abarbeiten. Sie hat keine politische Agenda, und das Sendungsbewusstsein ihres Vaters teilt sie auch nicht. Sie will Geschichten erzählen. Weniger Politik, mehr Schicksal. Das ist zeitgemäßer. Tabus gibt es eh keine mehr zu brechen. Wer sich Gedanken über die deutsche Gegenwart macht, guckt keine Seifenopern. Und wer Seifenopern guckt, will sich keine Gedanken über die deutsche Gegenwart machen.
Den Lindenstraßen-Zuschauer von früher gibt es nicht mehr. Aber es gibt einen neuen: Es ist die attraktive Zuschauergruppe der unter Zwanzigjährigen, die die Lindenstraße erreicht. Wer die vor den Bildschirm kriegt, darf weitersenden. Erst 2016 wird Hana über weitere zwei Jahre Budget verhandeln müssen.
Jetzt, kurz bevor sie auf das Produktionsgelände in Bocklemünd rollen, reagiert Hana auf die Nicht-so-bunt-Bitte ihres Vaters: »Papa, es geht um Kontraste.« Hana will in der Lindenstraße die großen einfarbigen Flächen abschaffen, indem sie Bilder an die Kulissenwände hängt, Bettwäsche mit Muster wählt oder Fotos an Schrankfronten klebt. Dadurch bekommt das Fernsehbild mehr Tiefe, und für den Zuschauer ist es einfach schöner. Hana achtet sehr auf Optik. Wenn sie in ihrem Wohnviertel unterwegs ist, macht sie Handyfotos von den Einrichtungen und bespricht die später mit dem Setdesigner Manfred: Könnte man ja auch mal machen, so ein paar alte Gemüsekisten stapeln und als Bücherregal verwenden. Hans Geißendörfer stöhnt. Auch weil er weiß, dass später am Tag noch eine Neuerung auf ihn wartet. Die beiden schauen sich die ersten Szenen an, die mit einem frisch angeschafften Kameraobjektiv gedreht wurden: mehr Tiefe, mehr Schärfe, etwas körnigeres Bild, mehr Struktur. Eine wertigere Optik, wie Hana erklärt. Nachdem die erste Szene über den großen Bildschirm gelaufen ist, dreht der Cutter Oli sich zu den beiden um, um ihre Reaktionen einzuholen. »Ich find’s super«, sagt Hana. Hans sagt: »Mich stört’s nicht.«
Dann gehen sie nebeneinander den langen Gang zurück zu ihrem Büro. Hans schlurft, an den Füßen die Hausschuhe, auf dem Kopf eine der Wollmützen, die ihm die Mutter des Schwiegersohns seines Bruders immer strickt. Hana geht, in ihren Turnschuhen wippend, neben dem Vater her. An der offenen Tür der Maske bleibt sie stehen, beginnt ein Gespräch, Hans schlurft weiter. »Ich bin weg!«, ruft er noch, und das ist er dann wirklich. Den Schlüssel für den BMW X3 hat er Hana auf den Schreibtisch gelegt. Er läuft vor zur Pforte, wo ein Taxi auf ihn wartet, in der Hand einen Leinenbeutel mit dem letzten Stapel Papieren darin, die noch auf seinem Schreibtisch lagen. Nur die Filzpantoffeln hat er zurückgelassen.