In Trauer verbunden

Die Väter von Semiya Simsek und Gamze Kubasik wurden von Neonazis erschossen, mitten in Deutschland. Ihr geteiltes Schicksal hat sie zu Freundinnen gemacht.

 

SZ-Magazin: Ihre Väter wurden von den Nazis der Zwickauer Terrorzelle ermordet. Ihr Vater, Semiya Simsek, wurde bereits 2000 in Nürnberg erschossen. Ihrer, Gamze Kubasik, sechs Jahre später in Dortmund. Wie haben Sie beide sich kennengelernt?


Semiya Simsek: Im Mai 2006 in Kassel auf dem Schweigemarsch für Halit Yozgat. Er war das neunte Opfer, er wurde in seinem Internetcafé erschossen. Dort unter den Trauernden habe ich Gamze gesehen und sie angesprochen. Ich wusste, dass der Mord an ihrem Vater gerade erst ein paar Wochen her war. Und ich habe in ihren Augen diese Ratlosigkeit erkannt, die ich auch damals gespürt hatte. Sie tat mir so leid.



Was haben Sie gesagt, Frau Simsek?


Simsek: Ich glaube, so was wie »Dein Vater könnte noch leben. Ihn hätte man retten können.«


Gamze Kubasik: Ja, das werde ich nie vergessen, weil es mich sehr berührt hat. Semiyas Vater Enver war das erste Opfer, ihn konnte man nicht schützen. Aber hätten die Behörden nach dem ersten Mord oder den ersten zwei, drei Morden richtig ermittelt, dann wäre mein Vater noch am Leben. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann ist es das, was mir richtig weh tut: dass es nicht hätte passieren müssen.



Waren Sie sich damals, 2006, schon sicher, dass die Taten zusammenhängen und es einen rechtsradikalen Hintergrund gibt?


Simsek: Gedacht habe ich das schon 2000, als mein Vater erschossen wurde, aber 2006 war ich mir dann vollends sicher. Und alle anderen auch. 


Kubasik: Ich war zwar noch unter Schock, aber ich erinnere mich, dass wir Opferfamilien nach dem Marsch in diesem türkischen Vereinsheim in Kassel beim Tee zusammensaßen und jeder noch mal den Tathergang von seinem Angehörigen erzählt hat, um Gemeinsamkeiten zu finden.



Warum hatten Sie die Hoffnung in die Behörden zu diesem Zeitpunkt schon verloren?


Simsek: Weil die sehr schlecht mit uns umgegangen sind. Eine Theorie nach der anderen haben sie an uns ausprobiert. Erst haben sie meine Mutter verdächtigt und ihre Brüder; Mord aus Habgier haben sie unterstellt. Zur Zeit des Mordes war mein Vater auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Erfolges mit seinem Blumengroßhandel. Da hat er richtig gut verdient. Unter der Matratze meiner Eltern waren immer bündelweise Scheine versteckt. Später hieß es deshalb, mein Vater sei vermutlich Dealer gewesen und habe in Holland gar keine Blumen gekauft, sondern Drogen. Und dann: Die türkische Mafia habe ihn wegen Spielschulden ermordet. 


Kubasik: Erzähl mal das mit der Geliebten.


Simsek: Einmal haben die Ermittler meiner Mutter ein Foto von einer blonden Frau gezeigt, die sexy angezogen war, und gesagt, sie sei die Geliebte meines Vaters, mit der er ebenfalls zwei Kinder habe.



Hat Ihre Mutter das geglaubt?


Simsek: Keine Sekunde, deswegen haben sie den Bluff auch bald aufgelöst. Sie hätten nur mal gucken wollen, wie sie reagiert. Der Frau Boulgarides, der Ehefrau eines der beiden Münchner NSU-Opfer, haben sie das Bild von dieser Frau übrigens auch gezeigt. Ihr haben sie erzählt, es sei die Prostituierte, zu der ihr Mann gegangen sei.



Frau Kubasik, waren Sie und Ihre Familie auch so vielen Verdächtigungen ausgesetzt?


Kubasik: Ja, klar. Am Tag, nachdem mein Vater erschossen worden war, wurden wir alle zu Hause abgeholt, meine Mutter, ich, meine zwei kleinen Brüder. Jeder von uns wurde acht Stunden lang verhört. Einen Tag nach seinem Tod. Das war furchtbar.



Was wurden Sie damals von den Polizisten gefragt?


Kubasik: Ob mein Vater Drogen verkauft hat. Ob ich je den Eindruck hatte, der Kiosk sei nur Tarnung. Ob es eine andere Frau gebe. Die haben mir allerhand Fotos von Ausländern vorgelegt, die sollte ich durchgucken, ob ich Freunde von uns erkenne. Nachher habe ich erfahren: Das waren alles verurteilte Straftäter. Das ging über Jahre so. Mir hat sehr geholfen, dass Semiya mich beraten und gestützt hat. Sie kannte das ja schon, die Verhöre, die Verleumdungen. Ich bewundere sie sehr. Sie ist so stark.



Was macht Ihre Freundschaft aus?


Simsek: Die Basis ist natürlich, dass wir das Gleiche erlebt haben. Dass ich einfach mitfühlen kann, was sie fühlt. Und sie, was ich fühle. Seit sieben Jahren sind wir befreundet. Und obwohl es mit dem Teilen der Trauer angefangen hat, reden wir nun auch über viele andere Sachen. Wir erleben ja auch Schönes. 


Kubasik: Für mich ist Semiya die besonderste Freundin, die ich habe. Wir sind uns ähnlich. Ich weiß zum Beispiel, dass Semiya jetzt in diesem Augenblick am liebsten ins Bad rennen und weinen würde. So geht es mir auch. Ich versuche immer richtig hart zu wirken und nicht öffentlich zu weinen. Ich will nicht, dass jemand Mitleid mit mir hat.



In welchen Situationen fällt Ihnen das Durchhalten besonders schwer?


Simsek: Immer wenn ich an meinen Papa denke. Wenn ich einen Mercedes Sprinter sehe, so einen hat mein Vater gefahren. Mit dem ist er immer montags nach Holland zum Blumengroßmarkt gefahren. Oder wenn ich ein Snickers sehe, denn diesen Riegel hat er immer irgendwo im Wagen für mich versteckt. Wenn ich ihn fand, durfte ich ihn essen. Oder wenn jemand grillt, das hat mein Papa auch so gern getan. 


Kubasik: Bei mir sind es vor allem die Nachrichten im Fernsehen, die mich fertigmachen. Dann hört man erst nur dieses Schlucken von mir und dann gehe ich schnell ins Bad, drehe den Wasserhahn auf, setze mich auf die Klobrille und weine erst mal.



Ihre Väter, Mehmet Kubasik und Enver Simsek, sind schon seit sieben beziehungsweise 13 Jahren tot. Erinnern Sie sich noch an die Umstände?


Simsek: Natürlich. Ich wurde nachts aus dem Internat geholt und ins Krankenhaus in Nürnberg gefahren. Dort wurde ich erst verhört. Die haben mich gefragt ob mein Papa eine Waffe gehabt habe, ich habe gesagt: »Er hat ein Blumenmesser, mit dem er immer die Stiele kürzt.« Dann durfte ich zu ihm. Ich habe gesehen, dass eines seiner Augen ausgelaufen war, er hatte Schusswunden, das Kissen war ganz blutig. Ich habe mich nicht getraut, ihn anzufassen, weil er so fremd aussah. Ich hätte seine Hand streicheln können, ich hätte ihn ja nicht küssen müssen. Dass ich das nicht gemacht habe, bereue ich sehr. 


Kubasik: Ich kam von der Berufsschule. Ich bin also aus der Bahn ausgestiegen und zur Mallinckrodtstraße gelaufen, wo sein Kiosk war. Plötzlich fingen die Leute, die davorstanden, an zu tuscheln: »Die Tochter, die Tochter kommt.« Da habe ich verstanden, dass was mit Papa ist, und bin unter der Absperrung durchgerannt, aber ein Polizist hat mich festgehalten. An seinen Augen hab ich gesehen, dass etwas Schlimmes passiert ist. Dann war ich weg. Ohnmacht. Die kommenden zwei Tage wurde ich mit Spritzen beruhigt.



Wird der Schmerz weniger mit den Jahren?


Kubasik: Ich habe mich damit abgefunden. Aber das Vermissen wird jeden Tag schlimmer. Wir waren Freunde, haben früher jeden Tag geredet, wenn ich ihn im Kiosk abgelöst habe, damit er einkaufen fahren kann. Er hat immer gesagt, ich sei seine rechte Hand. Deshalb habe ich mir nach seinem Tod seinen Namen in den rechten Unterarm tätowieren lassen. 


Simsek: Ich bin wirklich eifersüchtig auf die Gamze, die so viel Zeit mit ihrem Vater hatte. Meine Erinnerung hören auf bei Mathe lernen, Snickers verstecken und Ärger kriegen, wenn mein Bruder und ich mit unseren Inline-Skates verbotenerweise den steilen Berg runtergesaust sind.



Frau Simsek, Sie schreiben in Ihrem Buch Schmerzliche Heimat, dass Sie beim Aufräumen mal einen Schuhkarton mit Liebesbriefen gefunden haben, die Ihre Eltern sich geschrieben haben, und Sie durch diese Briefe Ihren Vater das erste Mal als Mann wahrgenommen haben. 


Simsek: Ja, das stimmt. Damals, Anfang der Achtziger, hat meine Mutter schon in Deutschland gelebt und mein Vater noch in der Türkei, weil er dort seinen Militärdienst ableisten musste. Ihre ersten beiden Ehejahre haben sie sich ständig geschrieben. Mein Vater war ganz schön romantisch und wahnsinnig verliebt in meine Mutter. Für sie hat er sogar seine Brüder und Schwester zurückgelassen und ist nach Deutschland gekommen. Das hat denen gar nicht gefallen.



Und dann wird er in Deutschland ermordet und die Ehefrau ist die Verdächtige. 

Simsek: Diese Verdächtigungen haben den Familienzusammenhalt zerstört. Die Familie meines Vaters hat meiner Mutter und ihren Brüdern nicht mehr getraut. Bis heute grüßen wir uns nicht, wenn wir uns sehen. Ich habe im Sommer geheiratet, selbst zu diesem Anlass habe ich nichts von ihnen gehört.



Dann war es doch sicher eine Genugtuung für Sie beide, als die Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden wurden? 


Simsek: Zuerst war es eine Genugtuung. Jeder hatte Mitleid, plötzlich war ich nicht mehr die naive Tochter eines Straftäters, die es nicht wahrhaben will, sondern das Opferkind, das schon immer die richtige Ahnung hatte. Aber nach ein paar Tagen ging mir dann auf, was das eigentlich bedeutet. Nämlich dass ich, als Deutsche mit türkischen Wurzeln, hier nicht erwünscht bin. Ich hab mich gefragt: Wie sicher bin ich überhaupt noch in diesem Land?



Frau Simsek, Sie sind im vergangenen Sommer in die Türkei gezogen. Können Sie sich das für sich und Ihren Mann auch vorstellen, Frau Kubasik? 


Kubasik: Der Gedanke kommt und geht, aber eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen. Und vor allem im Moment noch nicht. Es sind zu viele Fragen offen, als dass ich hier mit allem abschließen könnte.



Was sind das für Fragen? 


Simsek: Warum musste mein Vater sterben? Haben die Nazis ihn gekannt? Oder war das Zufall? Es sind fünf angeklagt, aber was ist mit all den anderen? Wie kann es sein, dass beim Verfassungsschutz Menschen arbeiten, die in ihrem Ort »kleiner Adolf« genannt werden, obwohl sie eigentlich die rechte Szene überwachen und überführen sollen? 


Kubasik: Überhaupt: Welche Rolle spielt der Verfassungsschutz? Wieso wurden Akten geschreddert?



Und wieso haben diese ganzen Ermittlungsfehler für niemanden Konsequenzen? 


Simsek: Das macht mich so wütend. Und es gibt keinen, der einem mal eine ordentliche Antwort gibt. Ich will Aufklärung. Deutschland ist ja meine Heimat. Deswegen erzähle ich alles wieder und wieder. Ich könnte ja auch sagen, Deutschland ist mir egal, ich lege mich in der Türkei unter einen Mirabellenbaum. Aber es ist mir eben nicht egal. Und wird es auch nie sein. Ich gehöre zu Deutschland.

 


 


Fotos von Peter Rigaud