1953 hießen Castingshows noch Talentwettbewerb. Irmtraud Kampmeier sang und siegte.
Sie war über zwanzig, trug mehr als einen Bikini und hatte keine Vorstrafen. Würde heute jemand versuchen, mit ihren Voraussetzungen eine Castingshow zu gewinnen, es wäre aussichtslos. Damals, 1953, ging es. Irmtraud Kampmeier, verheiratet, Hausfrau, drei Kinder, konnte die Zuschauer überzeugen – trotz züchtiger Bluse mit Puffärmeln und trotz ihres Songs, einer Arie aus der Oper Die Hugenotten. Das Publikum der Fernsehsendung Wer will, der kann – die Talentprobe für jedermann wählte die damals 25-Jährige auf Platz eins. Ein Sieg, der Irmtraud Kampmeier zu Deutschlands erster Castinggewinnerin machte, lange bevor es den Begriff Casting gab . Ein Sieg, der ihr Leben veränderte.
Heute ist Irmtraud Kampmeier 84 Jahre alt. Wenn sie von dem Tag erzählt, an dem sie Deutschlands erster Superstar wurde, spricht sie immer nur von »dem Nachmittag im Fernsehen«. Mit dem Auto brach sie morgens aus ihrer Heimatstadt Dortmund in Richtung Düsseldorf auf, sie trug einen karierten Rock, den ihre Lieblingstante genäht hatte, er sollte ihr Glück bringen. Ihr Mann und die drei Töchter hatten sie an der Haustür verabschiedet und ihr versprochen, die Sendung auf jeden Fall anzuschauen. Abends erzählten sie ihr, dass sie bis in den Nachbarstadtteil gelaufen waren, dort stand das nächste Fernsehgerät, in der Bahnhofsgaststätte. Als die Kamera auf Irmtraud Kampmeier gerichtet war und sie die ersten Töne der Opernarie sang, sagte Gudrun, die kleinste der Töchter, zu den Männern in der Wirtschaft: »Das ist meine Mama!«
Irmtraud Kampmeier lächelt, wenn sie das erzählt, sie mag diese Geschichte. Obwohl sie immer wieder, während sie über ihre Familie spricht, den Namen drei Wörter hinzufügen muss: »Leider schon tot.« Mitleid wischt sie weg, mit einem strengen »So ist es halt«. Sechs Kinder hat sie geboren, alle zu Hause. Zwei sind schon gestorben, auch ihr Mann lebt nicht mehr.
In ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in Dortmund-Schüren sitzt Irmtraud Kampmeier in dem beigefarbenen Sessel, das ist ihr liebster Platz. Von hier aus hat sie alles im Blick: den Fernseher. Ihr Sofa, über das sie, wenn keine Gäste da sind, eine Decke legt, um den weinroten Bezug zu schonen. Das Fenster, durch das sie den Weg sehen kann, auf dem gegen Mittag die Schulkinder durch die Neubausiedlung nach Hause flitzen. Und die Schrankwand, in der ein Foto ihres Mannes steht. Im Grunde, sagt Irmtraud Kampmeier und nickt mit dem Kopf in Richtung Foto, war das mit dem Fernsehen seine Idee. Ihr Mann wüsste jetzt auch, wo das Album ist, diese rot eingebundene Kladde mit den Zeitungsausschnitten, dem Foto von ihr kurz vor ihrem Auftritt und der Abschrift des Liedtextes, die sie damals in der Rocktasche trug, für den Notfall. Mit dem Album, mit ihrem Mann wäre es leichter, sich zu erinnern. Jetzt muss sie es allein versuchen. Sie zündet sich eine Zigarette an.
Eigentlich habe alles viel früher angefangen. An irgendeinem Tag, und man solle jetzt bloß nicht fragen, wann genau, sei sie nach Hause gekommen und habe auf der Anrichte die Zeitung gefunden. Ihr Mann hatte eine Anzeige für sie umkringelt: der Aufruf, sich für die Talentshow zu bewerben. Irmtraud Kampmeier war nur mäßig interessiert an Aufregung. Sie hatte viel zu tun mit dem Haushalt und den Kindern und überhaupt das Gefühl, schon genug Aufregung für ein Leben hinter sich zu haben. »Davor war ja Krieg«, sagt sie. Als der zu Ende ging, war sie 17 Jahre alt und schon Mutter, sie wusste, wie es ist, sich vor Bomben zu verstecken, nichts zu essen zu haben, verzweifelt zu sein. Als ihr Mann den Kringel um den Aufruf machte, war nach drei Schwangerschaften endlich einmal so etwas wie Ruhe eingekehrt. Alltag. Lange trug Irmtraud Kampmeier das Bewerbungsschreiben, das ihr Mann nach der Arbeit auf der Schreibmaschine getippt hatte, in ihrer Handtasche mit sich herum. Erst nach zwei Wochen warf sie es in den Briefkasten.
Am Ende sei es wohl der Ehrgeiz, der sie angetrieben habe, sagt sie. Sie sang damals schon viele Jahre im Chor, ihre Eltern hatten Musik geliebt und mit ihr und den Geschwistern gesungen. Das Lob ihres Mannes, der sie ständig bat, für ihn zu singen, reichte ihr nicht mehr. Sie wollte herausfinden, wie gut sie wirklich war. Es musste also eine neue Einschätzung her. Warum nicht die der Öffentlichkeit?
Irmtraud Kampmeier kennt Castingshows , das Wort Casting aber kennt sie nicht. Sie sagt Talentwettbewerb. Ein Begriff, der klarmacht, was sich seit ihrem Auftritt geändert hat. Der Dieter Bohlen von damals war Peter Frankenfeld, ein Conférencier der alten Schule, ein »höflicher junger Mann«, sagt Irmtraud Kampmeier. Er suchte Talente. Castings funktionieren anders: Sie sollen unterhalten, meist auf Kosten vermeintlicher Talente. »Wenn das im Fernsehen kommt, schalte ich um«, sagt Irmtraud Kampmeier. Sie könne sich das nicht ansehen. Nicht nur weil dort ständig Schimpfwörter benützt würden – »Vor allem der Bohlen sagt ständig ›scheiße‹, das muss doch nicht sein« –, sondern »weil man so keine Menschen behandelt«. Ihre größte Sorge ist es, dass ihre Enkelkinder sich bei einer Castingsendung anmelden: »Heute muss man dort seine Würde hergeben und bekommt nichts zurück.«
Damals, 1953, ging es noch gesittet zu. Peter Frankenfeld rief Irmtraud Kampmeier als Erste auf die Bühne. Die Scheinwerfer blendeten, sie konzentrierte sich, begann zu singen. »Ich war so nervös, dass ich es gar nicht genießen konnte.« Sie erinnert sich erst wieder an den Moment, als alles vorbei war und sie hinter der Bühne verschwand. Das Publikum klatschte noch immer. Nach ihr kam eine Tänzerin, dann ein Xylofonspieler, dann ein kleines Mädchen, das ein Gedicht aufsagte. Die anderen hat sie vergessen. »Das ist sechzig Jahre her!«, entrüstet sie sich, als sei die Frage danach eine Frechheit. Aber man spürt, dass sie sich vor allem über sich selbst ärgert, weil ihr wieder ein Detail verloren gegangen ist. Beim Abschied zwei Stunden später ruft sie einem »Und ein Jongleur war dabei!« hinterher. Es hat ihr keine Ruhe gelassen.
Nach nur einer halben Stunde stand Irmtraud Kampmeier als Siegerin fest. Sie bekam ihre Preise überreicht und fuhr nach Hause. Deswegen spricht sie ja auch vom »Nachmittag im Fernsehen«, weil alles so schnell ging. Und weil sie die Sache vor ihren Enkeln nie aufbauschen wollte. Schließlich sollen die nicht auf die Idee kommen, bei Castingshows gäbe es was zu holen.
Für ihren Sieg bekam sie einen Garderobenständer, eine gerahmte Zeichnung ihres Auftritts und einen Fernseher, den Schauinsland WII von Saba, 23 Kilo schwer, mit Holzgehäuse, Wert: 1.000 Mark. Es war der erste Fernseher überhaupt im Viertel, der in einer Privatwohnung stand. »Wir hatten plötzlich so viele Freunde«, sagt Irmtraud Kampmeier, »es war furchtbar.« Nach zwei Monaten verkauften sie ihn, vom Geld bauten sie den Dachboden aus, für die Kinder.
Was Irmtraud Kampmeier damals eigentlich gewann, war Unabhängigkeit. Zwar hatte kaum jemand sie im Fernsehen gesehen, für eine große Karriere reichte ihr Ruhm nicht. Aber um ein einziges Frauenleben zu ändern, war er groß genug.
Was mit einer schriftlichen Einverständniserklärung ihres Mannes für den Auftritt begann, ist heute die Geschichte einer emanzipierten Frau. Am Tag nach der Sendung sprach es sich in der Kirche schnell herum, dass eine von ihnen im Fernsehen gesungen hatte, und als die lokalen Zeitungen über sie schrieben, wurde Irmtraud Kampmeier für Veranstaltungen gebucht. Jeden Sonntag zog sie morgens los, zu Taufen, Hochzeiten, Firmenfeiern, und sang. Bis zu 30 Mark bekam sie pro Auftritt, in manchen Monaten verdiente sie fast so viel wie ihr Mann, ein kaufmännischer Angestellter. Sie entschied mit, wenn es darum ging, was angeschafft wurde, wohin die Familie in den Urlaub fuhr. Sonntags kümmerte sich ihr Mann allein um die Kinder. »Dass das ging«, sagt sie, »war damals nicht selbstverständlich.« Vorgekocht habe sie nie.
Eine ungewöhnliche Ehe für die fünfziger Jahre. »Ohne meinen Erfolg wäre es nicht so gekommen«, sagt sie. Er legitimierte ihre Selbstständigkeit, vor allem nach außen hin. Er ermutigte sie, sich etwas zuzutrauen. Erst die Leitung des Gemeindechors, dann den Vorsitz des Ortsvereins der Arbeiterwohlfahrt, schließlich die Arbeit im Unterbezirksvorstand der SPD . Noch heute ist sie Vorsitzende der Partei-Arbeitsgemeinschaft »60 plus«, die sie selbst gegründet hat. Ein paar dort, die so alt sind wie sie, kennen ihre Geschichte, die Jüngeren nicht. Es gibt kein YouTube-Video von ihrem Auftritt, sie hat keinen Wikipedia-Eintrag. Irmtraud Kampmeiers Triumph lässt sich nicht googeln.
Eine junge Parteigenossin hat sie einmal gefragt, warum sie so eine ungewöhnlich selbstbewusste Frau sei. Alles habe angefangen mit einer Talentshow im Fernsehen, hat Irmtraud Kampmeier geantwortet. Daraufhin hat die junge Frau nur gelacht. Sie hielt die Antwort für einen Witz.
Fotos von Rosa Weigl