Ein Besuch im Haus von Hilde Schramm ist auch ein Besuch in ihrem Leben. Es ist ein sonniger Herbsttag in Berlin-Lichterfelde. Hier wohnt Schramm in einer Gründerzeitvilla. Eine schmale Treppe unter tiefer Decke führt in die drei Zimmer, in denen sie lebt, arbeitet und schläft. Die Achtzigjährige sortiert gerade ihren Nachlass für die Heinrich-Böll-Stiftung. Politisches aus den Achtzigerjahren, als sie Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses war und zeitweise sogar dessen Vizepräsidentin. Ein Karton steht bereit für all die Unterlagen, Fotos und Mappen, die Schramm gerade aus ihrer aktiven politischen Zeit zusammensucht.
Aber Schramms Leben gehört in mehr als einen Karton, denkt man gleich, wenn man bei ihr Platz nimmt. Hilde Schramm wurde als Hilde Speer geboren, 1936, als älteste Tochter von Albert Speer, Hitlers Architekt und Rüstungsminister. Aufgewachsen ist sie am Obersalzberg, innerhalb des Führersperrbezirks. Hinter ihrem Haus führte ein Weg hoch, durch ein Gatter, zum Berghof, Hitlers Quartier. Erst 1945 verließ sie diesen Ort ihrer Kindheit, sah ein zerstörtes Deutschland, verfolgte die Nürnberger Prozesse und schrieb mit ihrem als Kriegsverbrecher inhaftierten Vater über zwanzig Jahre lang Briefe. Insofern wäre ihr privater Nachlass auch etwas für Historiker. Einen Karton fürs Deutsche Haus der Geschichte.
Gleich zu Beginn hatte sie klargestellt, dass sie dieses schöne Haus mit großem Garten in Berlin-Lichterfelde vom Geld ihres Großvaters gekauft habe. Nicht vom Erbe ihres Vaters, der, nachdem er 1966 aus dem Alliierten-Gefängnis in Spandau frei kam, mit seinen in Buchform erschienenen Erinnerungen an das Dritte Reich und Tagebüchern noch mal viel Geld verdient hatte.
Schramm lädt zum Interview über ihr Leben an einen grünen runden Tisch, das Zentrum ihrer drei Zimmert. Einen Tisch, der auch schon Basteltisch war im Kinderladen, den Schramm und ihre Mitbewohner in den Siebzigerjahren im Gartenhaus aufmachten, weil ihnen die Erziehung in West-Berliner Kindergärten zu autoritär war. Und an dem später Aktionen der Berliner Friedensbewegung geplant wurden.
Dieser Teil von Schramm Leben, er gehört zu ihrem gesellschaftlichen Nachlass. Sie war aktiver Teil einer Generation, die die Gesellschaft neu formte. Sie schloss sich in den Sechzigerjahren der Friedensbewegung an, später den Grünen. Noch heute lebt sie in der Hausgemeinschaft, die sie 1968 gemeinsam mit anderen und hochschwanger gegründet hatte, um die bürgerliche Kleinfamilie zu überwinden. Sie wollte ein verantwortungsvolles und nachhaltiges Leben führen, wie es ihre Eltern ihr nicht vorgelebt hatten.
Ist ihr linkes Leben, ihr Einsatz für die Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts also auch eine Art Selbsttherapie? »Ich hoffe, ich habe es nicht in erster Linie für mich gemacht, sondern um der Sache willen«, sagt sie. »Aber es hat mir geholfen, dass ich mich auf das Thema einlasse.«
Natürlich spricht Schramm im Interview auch über das »ambivalente Verhältnis« zu ihrem Vater, der im persönlichen Umgang kein kalter NS-Verbrecher war: »Ich habe ihn nicht als grausam, sondern als liebenswert empfunden. Gleichzeitig weiß ich und habe zunehmend erfahren, was er alles verbrochen hat.« Sie erklärt, warum Sie sich in vollem Bewusstsein von Albert Speers Verbrechen doch für seine Freilassung eingesetzt hat – und was sie heute denkt, wenn sie Bilder sieht, auf denen sie als junges Mädchen mit strahlendem Lächeln neben Adolf Hitler steht.
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