Frauenlauer

Erstmals in der deutschen Geschichte stehen sich bei einer Landtagswahl zwei Spitzenkandidatinnen gegenüber. Die beiden Frauen führen einen Wahlkampf ohne Kampf – und das ist leider das Schlaueste, was sie machen können.

Die Vereinshalle im Örtchen Ingelheim hat sich aufgewärmt in den zwei Stunden politischer Wahlkampfreden: Die Wangen sind rot, die Schläfen angespannt vom Zuhören. Jetzt Druckabfall: ein Bier für die Männer, ein Wein aus der Region für die Frauen, mal ein Fenster kippen und ein bisschen Gesang. Auf der Bühne stehen sieben junge Frauen und singen a cappella. Alle sind sie schwarz-rot gekleidet, alle wippen sie im Rhythmus zu ihrem Lied. Es handelt von Frauen und was die alles können: »Männer verführen, bestellen und stornieren, Brote schmieren, Pflaster kleben, Geheimnisse rauskriegen, sich gut cremen, gut aussehen.« Die Männer nicken, und die Frauen gucken neckisch ertappt und kriegen dafür ein Bussi. Als der Refrain zum zweiten Mal einsetzt, summen schon ein paar mit: »Für Frauen ist das kein Problem, so was machen wir mit links, im Sitzen, Liegen und im Stehen, meistens gelingt’s.« Die gute alte Multitasking-Mär zum Mitklatschen.


Alles so weit normal: Feierabend in der deutschen Provinz, ein Bierchen und ein bisschen lieb gemeinter Sexismus, von dem sich niemand angegriffen fühlt. Julia Klöckner sitzt zwischen den Ingelheimern und klatscht mit. Was bleibt ihr auch übrig. Der CDU-Ortsverband, der diese Veranstaltung ausrichtet, hat sich ja was dabei gedacht: Unser Spitzenkandidat ist eine Frau, also kommt auch ein Frauenchor, und wäre es nicht nett, wenn der was über Frauen sänge? Über starke Frauen, die verführerisch Butterbrote belegen und mit der anderen Hand blutige Kinderknie versorgen? Julia Klöckner möchte aber keine Knie pusten, sie möchte Ministerpräsidentin werden, sie möchte die mächtigste Frau in einem Bundesland werden. Sie möchte Flüchtlingspolitik auf Bundesebene machen, mit Merkel, gegen sie, egal, aber machen. Kurz: Julia Klöckner ist nicht die Art Frau, die hier besungen wird. Und wenn sie die Menschen anspricht, merkt man, dass sie weiß, dass das ein Problem ist.


Erstmals stehen sich jetzt in einem deutschen Landtagswahlkampf zwei Frauen gegenüber. Malu Dreyer und Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz. Und damit stellt sich die Frage: Ist dadurch alles anders? Führt eine Frau einen anderen Wahlkampf? Ist es dann ein Vorteil, wenn die Konkurrenz auch eine Frau ist: Ist das dann ein Patt? Hebt sich der Faktor Frau gegenseitig auf, so wie minus mal minus plus ergibt? Gibt es überhaupt einen Faktor Frau – oder ist das bloß eine angenommene diffuse Kraft, die der eine als mysteriöse Geheimwaffe und der andere als offensichtlichen Nachteil beschreiben würde?


Diese Fragen können nur die beantworten, die Politik machen, und am besten können es die beantworten, die als Frau Politik machen. Diese Fragen führen nicht nur nach Ingelheim zu Julia Klöckner und nach Mainz zu Malu Dreyer, sie führen auch nach Apolda in Thüringen auf den 70. Geburtstag von Gertrud, die von Christine Lieberknecht dort die Hand geschüttelt bekommt. Und diese Fragen führen in ein kleines Café, in dem eine Politikerin sitzt und leidenschaftlich analysiert, warum sie nie Ministerpräsidentin wurde. Sie will ihren Namen nicht erwähnt haben, weil es so verbittert klinge, wie sie rede. Und weil man im Nachhinein keinen Schmutz werfe. Weil das unfein sei. Ja, weil die Leute das nicht mögen.


Und schnell wird klar: Dies wird keine Geschichte über die Schwierigkeiten von Frauen. Es ist eine über Schwierigkeiten mit Frauen. Denn keine der oben genannten Frauen empfindet es als Problem, eine Frau zu sein. Auch nicht als schwierig. Es ist nicht das Amt, das anders lastet, nicht der Machtkampf, den sie scheuen. Das Problem, das sie haben, liegt darin, dass andere eines mit ihnen haben. Viel mächtiger als der politische Kontrahent oder der harte Angriff ist das Klischee, wie eine Frau zu sein hat. Das ist ihr Gegner. Und nie ist dieser Gegner so stark wie im Wahlkampf.


Ein Mann ist ein leeres Blatt Papier. Eine Frau ist kein leeres Blatt, sie ist eine Abweichung vom Normalzustand. Sie ist die Frau. Natürlich ist sie noch mehr. Sie kann schlau sein oder dämlich, höflich oder unfreundlich, rigide oder locker. Aber sie ist das alles als Frau. Das Blatt Papier, das sie ist, hat die Farbe rosa. Alles, was man darauf schreibt, sieht anders aus als auf einem weißen Blatt Papier. Blaue Tinte wirkt lila. Gelbe Tinte wirkt orange. Aus energisch wird hysterisch. Aus konsequent wird zickig. Aus realistisch wird verbittert. Aus attraktiv wird Barbie. Aus Vollzeitpolitikerin wird Rabenmutter. Aus durchsetzungsstark wird eiskalt. Aus schwanger wird »nicht erreichbar«. Aus emotional wird gaga. Aus machtbewusst wird Königsmörderin. Und aus einem neutralen Gesichtsausdruck wird bei einer Frau ein unfreundlicher. Politikerinnen müssen all diese Verfärbungen immer mitdenken.


Ein Mittwoch Mitte Februar 2016, in vier Wochen und vier Tagen wird gewählt. Malu Dreyer ist in der Wahlkampfzentrale der SPD, einem hell gestrichenen Eckhaus in der Mainzer Innenstadt. An den Wänden der Flure lehnen Plakattafeln mit dem Porträt von Malu Dreyer, die Wahlhelfer müssen seitlich gehen. Dreyer steht im ersten Stock der Taktikzentrale und dreht Mini-Werbespots für den Facebook-Auftritt. In warmrotem Blazer und schwarzer Bluse redet sie auf die Kamera ein: »Wir sind schon fast am Ziel. Am 13. März will ich mit euch allen feiern.« Fast nie sagt sie »ich«, sondern vor allem »wir«. Sie lächelt beim Sprechen so ausdauernd, dass ihre Mundwinkel immer nach oben zeigen. Im TV-Duell gegen Julia Klöckner wird sich zeigen, dass sie sogar lächelnd widersprechen kann. Und sie hat auch noch eine Steigerung des breiten Lächelns drauf ; die meisten ihrer Facebook-Ansprachen an ihre Wähler beendet sie mit einem Lächeln, bei dem sie noch die Nase kraus zieht. Mehr Freundlichkeit kann man auf der Fläche eines Gesichts nicht unterbringen. Lutz Meyer ist Politikberater und weiß um die Macht von Mundwinkeln. Im vergangenen Bundestagswahlkampf hat er Angela Merkel beraten, in Imagefragen. Manche nennen ihn seitdem auch den Kanzlerinnen-Macher. Von ihm habe sie gelernt, wie sie besser rüberkomme, heißt es. Meyer selbst hat in dieser Zeit auch etwas gelernt, nämlich dass der Faktor Frau so einiges verändert: »Frauen können nicht Wahlkampf machen wie Männer, aber sie dürfen es auch nicht als Frauen machen, sie sind was dazwischen. Sie sind in einer Rolle.«


Das klingt erst mal nicht so schlimm. Dass Macht ihren Tribut fordert, ist klar, natürlich muss man etwas aufgeben. Ein echtes Privatleben, ein echtes Familienleben. Frauen müssen aber ein Stück von sich selbst aufgeben, ein bisschen »Ich«. Was das wirklich bedeutet, versteht man erst, wenn man Frauen eine Weile beim Wahlkampf zugesehen hat. So wie Julia Klöckner in der deutschen Provinz.


Für eine konservative Wahlkämpferin sind allein die eigenen Leute eine Herausforderung, zumal für eine wie Klöckner. Sie ist ehrgeizig, unverheiratet und kinderlos. Keine konservative Traumfrau. Trotzdem vollzieht sie das Kunststück, in einem Saal voller älterer Leute, in dem nichts so heftig beklatscht wird wie ihre Witze über das Binnen-I, einen Sieg zu verbuchen. Feuilletondebatten über 50/50, Vereinbarkeit und den neuen Mann sind hier ganz weit weg. Hier ist Ingelheim, hier sitzt der alte Mann – und der soll sie wählen. Klöckners Rede ist auf ihn zugeschnitten, egal wie weit sie sich vorwagt in Sachen Gleichberechtigung der Frau, Fremdbetreuung oder Flüchtlingspolitik, immer nimmt sie ihn mit.


Mitunter führt das zu rhetorischen Figuren, die Pirouetten drehen müssen. »Manche sagen, früher war alles besser, da gingen die Frauen noch nicht arbeiten, sondern waren zu Hause, und die Kinder waren gut aufgehoben«, sagt Klöckner, und es das hat etwas unfreiwillig Komisches, wenn sie, die supersmarte Berufspolitikerin, das sagt. Aber sie steht hier nicht als Frau, die führen will. Sie ist hier als Vermittlerin zwischen dem alten Mann und der Frau, die gewählt werden will. Und erst mal stimmt sie zu: »Ja, früher war es klarer geregelt, früher wusste jeder, was er zu tun hat, und das hat gut funktioniert.« Sie wartet den Applaus ab. Jetzt wird sie vertraulich, weich und werbend: »Aber seien wir doch mal ehrlich, wirklich die Wahl hatten die Frauen nicht, die waren zu Hause, weil das halt so war.« Stille, die Leute überlegen. Jetzt holt Klöckner vorsichtig aus: Sie wolle aber, dass die Frauen frei entscheiden könnten. An dieser Stelle klatschen die Frauen. Und viele Männer nicken, aber sie nicken nicht nach vorn, sie nicken zur Seite. Also mehr ein »Na ja«. Aber Klöckner hat noch ein Argumentations-Ass im Ärmel. Sie wird kämpferisch, als ginge es um den Fortbestand des Abendlandes, und genau den Eindruck will sie ja auch vermitteln: »Die Frau ist bei uns gleichgestellt, und da sind wir stolz drauf!«, ruft sie. Jetzt klatschen alle. Natürlich, genau, so ist es.


Am Ende vollbringt Klöckner die Meisterleistung, sich selbst als Errungenschaft der Männer im Saal zu präsentieren: Weil die früher so hart gearbeitet haben und jetzt noch so offen im Kopf sind, können wir uns in Rheinland-Pfalz heute unserer Werte so sicher sein, dass ich, als junge Frau, hier stehen und uns alle vertreten kann – so in etwa verläuft die argumentatorische Schlangenlinie, die sie aufmalt. Am Ende ihrer Rede hat sie alle eingekreist, Standing Ovations in Ingelheim. Die wahre Leistung bleibt ungesehen: eine professionelle Deformation. Das ist das eine.


Das andere ist: Was man sieht, wird nicht als Leistung wahrgenommen. Julia Klöckner hat sich, um sich für dieses Amt zu empfehlen, auch selbst optimiert. Sie hat stark abgenommen, zieht sich moderner an als früher, hat eine Frisur, die fernsehtauglich ist und halbwegs unkompliziert zu pflegen. Weiblich, aber nicht zu sehr. Selbst beim Haar scheint das das Motto zu sein. Während in Ingelheim alle Obazdn essen, Brezen und Kartoffeln mit Hering, bleibt sie bei grünem Salat. Das Weißbrot dazu gibt sie der Kellnerin gleich wieder mit. Das ist eine Aufopferung, wie Männer sie nicht erbringen müssen.


Christine Lieberknecht hebt auf die Frage, was anders wurde, seit sie keine Ministerpräsidentin mehr ist, nur die Füße in die Luft. Sie sitzt in einem Dienstwagen auf der Rückbank; helle Ledersitze, Lieberknecht, in Blau gekleidet mit Michael-Kors-Tasche, draußen die thüringischen Hügel, sie ist auf dem Weg ins Städtchen Apolda, 70. Geburtstag von Gertrud, gratulieren, ein Sektchen, bisschen Shrimps mit Mayo, weiter. Das ist jetzt, wo sie als einfache Landtagsabgeordnete arbeitet, eine ihrer Aufgaben – und es macht ihr Spaß. Und wenn man sie einen Tag beobachtet, so scheint es: Alles macht ihr Spaß. Allem kann sie etwas abgewinnen. Besonders den Schuhen, die sie jetzt wieder tragen darf, das sei schon eine enorme Erleichterung. Sie trägt dunkle Stiefeletten mit flacher Sohle, offenbar Schuhe, die undenkbar sind für eine Frau im Amt. Es sind die Schuhe, aber auch die Kleider in Farben und Mustern, die sie mag und die nun wieder in ihrem Schrank hängen, nachdem politische Stylistinnen sie für den Wahlkampf einkassiert hatten. Und außer den Kleidern? Es ist die Milde, die jetzt, wo nicht mehr so genau geschaut wird, keine Schwäche mehr ist. Es ist die Verve, die jetzt, wo sie nicht mehr im Amt ist, nicht mehr als aufbrausend gilt. Lieberknecht ist weit entfernt von Verbitterung. Sie erzählt von 25 Jahren Arglist und Tücke, auch gegen sich selbst, so ungerührt, als würde sie einen Shakespeare-Plot zusammenfassen. Aber man merkt: Diese Verfärbung immer mitzudenken hat sie Kraft gekostet. Einmal, sagt sie, hätte sie fast ein Amt nicht angenommen, das der Fraktionsvorsitzenden. Ihr Gedanke damals war: »Ich als Frau zwischen Bodo Ramelow und Christoph Matschie und in jeder Debatte gefordert als die, die verbal austeilt – ich werde dann doch immer als die gesehen, die rumkeift.«


Es ist die Wahrnehmung, die das Verhalten beeinflusst. Frauen in der Politik sind umgeben von Männern, wenden sich an männliche Entscheidungsträger, häufig über Medien, die männlich geführt sind und deshalb Formate zur Selbstdarstellung anbieten, die männlich geprägt sind. Lutz Meyer, dessen Aufgabe es war, dafür zu sorgen, dass Angela Merkel gut rüberkommt, hat ein Lieblingsbeispiel: das Fernsehduell. Natürlicherweise würden sich Frauen so nicht austauschen, sagt er; einander gegenüberstehend, kampfbereit, manchmal pöbelnd. Denn eigentlich würden Frauen inhaltsbezogener arbeiten, weniger Show, mehr Ergebnis. Ob das nun stimmt oder nur ein weiteres Klischee ist, wenn auch ein positives, ist beinahe egal. Was stimmt: Ein Duell ist ein Format, das Frauen nicht sympathisch wirken lässt, wenn sie sich verhalten, wie das Format es vorgibt: laut und aggressiv.


Bei einem Wahlkampf unter Männern gehört der Seitenhieb zum Ritual, in Rheinland-Pfalz wird er sorgfältig gemieden. Schon im Herbst auf der Frankfurter Buchmesse gab Malu Dreyer den Ton vor, unter dem dieser Wahlkampf ablaufen würde: »Manche Dinge gehören sich einfach nicht, ich war nie respektlos und werde es auch im Wahlkampf nicht sein.« Diese Absage an den Schlagabtausch wiederholt sie seitdem in fast jedem Interview. Ihre Wahlkampftaktik ist schnell zusammengefasst: nicht kämpfen. »Die Bürger mögen es nicht, wenn sich Frauen angiften«, sagt sie und lächelt. Und ihre Kontrahentin Klöckner hat sie durch ihre Verweigerung gleich mit entwaffnet: Wie soll die eine Frau angreifen, die nicht kämpfen will? Zumal als Frau, die nicht kämpfen soll? So ist der Wahlkampf, in dem sich zwei Frauen gegenüberstehen, eine ziemlich lähmende Angelegenheit.


Das Dilemma der wahlkämpfenden Frau lässt sich auch mit einem Blick in die USA verstehen. Hillary Clinton, so diagnostizieren es viele Wahlbeobachter, hat drei Probleme. Und ein Gegner Trump wird die sehr viel gnadenloser instrumentalisieren als ein Bernie Sanders bisher im Vorwahlkampf. Es heißt, sie wirke zu schrill, zu verbissen und sei nicht authentisch. Ein Moderator witzelte zuletzt, es müsse ihr mal jemand sagen, dass das Mikro schon an ist. Schrill und verbissen, bei einem Mann hieße das: leidenschaftlich und engagiert. Immerhin: Das sind Verfärbungen, denen man begegnen kann. Fieser ist der Vorwurf, nicht authentisch zu sein. Dem kann man kaum begegnen. Vor allem nicht, wenn er stimmt.


Es gibt diese herrliche Szene, in der Hillary Clinton eine Frage aus dem Publikum beantworten soll. Wie sie denn das Ego, das man brauche, um ins Weiße Haus zu kommen, mit der nötigen Demut in Einklang bringen wolle, will einer wissen. Fiese Frage, gute Frage. Und Hillary? Sagt doch tatsächlich, sie habe sich niemals träumen lassen, je auf einer Bühne zu stehen und sich um ein solch hohes Amt zu bewerben. Die ehrliche Reaktion auf so viel Unehrlichkeit: ein kollektiver Lachanfall.


Aber wie geht authentisch denn, wenn man ständig Salat isst, obwohl man Lust auf Schnitzel hat, wenn man Farben und Schnitte trägt, die einem nicht recht gefallen, eine Frisur hat, die praktisch ist und nicht zu weiblich, wenn man stets nur einen Bruchteil von sich selbst lebt, wenn man in Wahlkampfreden nicht nur seine Inhalte, sondern auch sich als Kandidatin rechtfertigen muss? Wenn man ein Teil von sich nicht sein darf? Und wenn man es mal ist, sind alle irritiert.


Eine deutsche Landesministerin erzählt in vertrauten Runden unter Frauen gern ihre gesammelten Erlebnisse von der Hotelbar. Wie den Männern, die sich gerade noch super engagiert auf den Barhocker neben ihr vorgearbeitet haben, das Gesicht zusammenfällt, wenn sie hören, wen sie da anflirten. Eine Ministerin? Und tschüss! Die traurige Pointe aus all den lustigen Anekdoten: Die Ministerin hat irgendwann angefangen, sich als Lehrerin auszugeben. Dann ging es. Zurück bleibt die Erkenntnis, dass die mächtige Frau immer eine ihrer Seiten verschleiern muss: tagsüber die Frau. Und abends die Macht.


Interessant ist ja, dass Frauen so oft Folgewahlen gewinnen, also Ministerpräsidentin oder Kanzlerin bleiben, wenn sie es erst einmal geworden sind. Aber es zu werden, ist für sie besonders schwierig. Die meisten Ministerpräsidentinnen, die Deutschland hatte, haben keine Wahl gewonnen. Sie haben sich das Amt im Gespräch mit der eigenen Partei und dem politischen Gegner gesichert, wurden ernannt oder haben Mehrheiten gesucht. Sie wurden in Hinterzimmern zu Ministerpräsidentinnen, nicht auf großer Bühne. Das gilt für Malu Dreyer, für Annegret Kramp-Karrenbauer im Saarland, für Hannelore Kraft, die in Nordrhein-Westfalen zunächst eine Minderheitenregierung führte. Auch die ehemalige Ministerpräsidentin von Thüringen, Christine Lieberknecht, übernahm erst nach der Wahl den Posten von Dieter Althaus, der zurückgetreten war. »Frauen dürfen nur in der Krise ran«, sagt Lieberknecht heute. Für die Erste unter ihnen, Heide Simonis, gilt das ebenso: Sie gewann zwar selbst ihre Wahl, war aber nur aus einer Notlage heraus aufgestellt worden. Ihr Vorgänger im Amt und Parteikollege Björn Engholm war im Zuge der Barschel-Affäre zurückgetreten. Keiner traute keinem mehr, die Partei war in Verruf geraten. Man brauchte ein Zeichen, ein Signal, jemanden, der eine neue Geschichte erzählte: eine unerhörte Begebenheit. Die Wahl fiel auf eine Frau.


Viele dieser Ministerpräsidentinnen wurden danach in ihrem Amt bestätigt, manche mehrfach. Dafür gibt es drei Gründe: Weil man sah, dass sie es doch können. Weil Amtsinhaber immer bessere Chancen haben. Und weil es weniger vermessen, weniger besessen wirkt, etwas behalten als etwas erobern zu wollen.


Politikerinnen, die zur Wiederwahl stehen, legitimieren sich über die Kontinuität, sie leiten ihren Führungsanspruch daraus ab, dass sie ihre Arbeit nun, wo sie einmal da sind, auch zu Ende führen wollen. Das klingt fleißig, verantwortungsbewusst und verlässlich. Malu Dreyer hat ihre ganze Kampagne auf diesem Narrativ aufgebaut. »Offenheit, Erfahrung, Verlässlichkeit« steht auf ihren Wahlplakaten. Ihre Wahlkampftour führt sie unter dem Motto »Zu Hause unterwegs«, und einer ihrer Lieblingssätze lautet: »Ich möchte mein Amt zum Wohle der Bürger weiterführen.« In Angela Merkels Wahlslogan »Sie kennen mich« formvollendet sich dieses Motiv. All so etwas kann man als Frau gut sagen. Denn verbindlich zu sein, an der Sache interessiert und pflichtbewusst – das alles sind positive Vorurteile gegenüber Frauen. Zu diesen Vorurteilen gehört auch die Annahme, Frauen seien zugänglicher. Es heißt, man öffne sich ihnen gegenüber eher, ja fühle sich geborgen. Das kann besonders dann ein Vorteil sein, wenn Menschen gerade das Gefühl haben, die Politik entferne sich von ihnen. Wenn Menschen sich nach Halt, nach Hilfe, nach Nachsichtigkeit sehnen. Frauen, die Macht haben, nutzen dieses Stereotyp. Hannelore Kraft tröstet, hilft und kümmert, seit Neuestem führt sie ein Videotagebuch. Annegret Kramp-Karrenbauer gilt als Anpackerin, die aber dabei kein großes Gewese um sich selbst macht. Sie ist uneitel tüchtig, auch ein großer weiblicher Topos. Annegret Kramp-Karrenbauer nennt sich selbst AKK, weniger Geltungsdrang geht ja kaum. Und Angela Merkel hat in dieser Zuschreibungswelt den ersten Platz am Herd gemacht. Sie ist die Inkarnation von allem weiblich Guten: die Mutti. Sie passt auf alle auf.


Als authentisch wahrgenommen werden Frauen, wenn sie sich verhalten, wie man es von Frauen annimmt. Und es scheint, als hätten Malu Dreyer und Julia Klöckner sich entschieden, da mitzuspielen. Fleißig entsprechen sie den positiven Klischees. Wo das Blatt schon rosa ist, kann man die Verfärbungen ja auch nutzen. Sie helfen den Leuten im Supermarkt beim Tütenpacken, suchen ständig den Körperkontakt zum Bürger und versuchen sich im TV-Duell Anfang März, dem einzigen Aufeinandertreffen vor der Wahl, darin zu übertreffen, wer loyaler zu Angela Merkel stehe. Inhaltlich konzentrieren sie sich auf soziale Themen.


Selbst Klöckner, die sich mit ihren Ideen in der Flüchtlingskrise eigentlich auf dem härteren Feld der Asylpolitik hervortun wollte, lenkt bei ihrem großen Wahlkampfauftakt in Ingelheim schon wieder ein: »Heute will ich nur als Letztes kurz über die Flüchtlinge reden und erst mal über Ihre Sorgen hier in Rheinland-Pfalz.« Die Leute klatschen; es ist Klöckners erster Applaus an diesem Abend im Vereinsheim in Ingelheim. Sie lächelt und führt ihre Rede fort, in der es um motivierte Lehrer gehen wird und weniger Schulausfall, um mehr Polizisten und mehr Zusammenhalt, gute Straßen und sichere Wege, Alte und Junge und die Familie als das Wichtigste auf der Welt. Neben der Bühne steht ein großes Plakat: ein Porträt von Klöckner, den Kopf leicht schräg gelegt, der Blick vertrauenerweckend. Daneben steht nur ein Wort: kümmern. Als wollte Julia Klöckner nicht Ministerpräsidentin werden, sondern Knie pusten.